Transborder SummerCamp
Transnationale Solidarität gegen das Europäische Grenzregime
Auf dem mehrtägigen Transborder SummerCamp in Nantes/Frankreich kommen Aktivisten und Betroffene zusammen. Sie berichten und diskutieren über die EU-Flüchtlingspolitik an den Außengrenzen. Valeria Händel und Kerem Schamberger waren dabei.
Von Valeria Hänsel und Kerem Schamberger Dienstag, 09.08.2022, 15:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 09.08.2022, 13:52 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
„Ich hätte es nicht geglaubt, wenn mir vorher jemanden gesagt hätte, dass es einen Ort gibt, wo sich so viele Menschen aus unterschiedlichen Ländern und Hintergründen treffen können, um unsere verschiedenen aber doch gemeinsamen Kämpfe zusammen zu diskutieren. Ich hätte nicht geglaubt, dass wir hier alle auf Augenhöhe und gleichwertig sind, egal ob wir aus Afrika, Asien oder Europa kommen, egal welche Sprache wir sprechen und welche Hautfarbe wir haben. Doch hier war es so. Und jetzt haben wir viele Pläne und der gemeinsame Kampf wird weitergehen“, erklärt ein junger Aktivist aus Westafrika.
Er steht am Mikrofon unter dem Dach eines bunten Zirkuszeltes, das auf dem selbstverwalteten Gelände der ZAD (zone à défendre) in der Nähe von Nantes aufgebaut wurde, um vor der brennenden Sonne Schatten zu spenden. Die ZAD wurde vor einigen Jahren von Aktivist:innen besetzt, um den Bau eines Flughafens zu verhindern. Der junge Mann am Mikrofon ist das erste Mal auf dem Transborder Summercamp, das vom 15. bis 18. Juli nun schon zum zweiten Mal auf der ZAD stattgefunden hat. Er ist einer von vielen, die auf der Abschlussveranstaltung das Wort ergreifen und bewegt ihre Eindrücke schildern. Mehrere hundert Menschen in und um das Zelt lauschen seinen Worten, die vom Übersetzungskollektiv Interprise simultan in sechs verschiedene Sprachen übersetzt werden.
Über vier Tage hinweg wurden auf dem Treffen in parallelen Workshops die Entrechtung von Menschen an verschiedenen Grenzen und die Kämpfe dagegen diskutiert. Es geht um Grenzen innerhalb Europas und die EU-Außengrenze, die teilweise bis tief in die Sahel-Region hinein vorverlagert wurde, aber auch um antirassistische Kämpfe von Südamerika bis Afghanistan. Allen Beteiligten ist klar, wofür – und vor allem wogegen – es sich zu kämpfen lohnt: Das Thema Tod ist allgegenwärtig. Listen mit Namen und Bildern der Toten der Festung Europa prägen das Gesamtbild des Camps.
Die Auftaktveranstaltung beginnt mit einer Schweigeminute für die 37 verstorbenen Menschen, die am 27. Juni an den hochgerüsteten Grenzzäunen der spanischen Exklave Melilla ums Leben kamen. Der Workshop zu „Identification and Missing Migrants“ zeigt Ausmaß und Dramatik der Schicksale verschwundener Menschen an den Grenzen weltweit. Tausende von Menschen starben in den letzten Jahren alleine im Mittelmeer beim Versuch nach Europa zu gelangen. Nur von etwa jedem Dritten ist überhaupt die Identität bekannt. Alle anderen verschwinden für immer im anonymen Massengrab des Mittelmeers, da sich die zuständigen Behörden keine Mühe mit der Identifizierung der Verschwundenen geben.
Auf dem Camp geht es jedoch nicht nur um antirassistische Kämpfe an den Grenzen Europas, sondern auch innerhalb der EU-Staaten. Unter den ausgestellten Bildern der Verstorbenen befinden sich auch Personen, die durch rassistische Polizeigewalt in Deutschland und anderswo ums Leben kamen. Auf der Abschlussveranstaltung wird in einem bewegenden Moment an Hassan Numan, einen kürzlich verstorbenen Aktivisten aus dem Sudan gedacht, der durch Selbstorganisation von Geflüchteten zahlreiche Abschiebungen aus deutschen Aufnahmeeinrichtungen verhindern konnte. Auch Menschen ohne Papiere und Reisefreiheit haben – teilweise unter großen Mühen – ihren Weg zum Transborder-Treffen gefunden. Eine Aktivistin erklärt in der Abschlussrunde: „Ich gehöre zu denen, die keine Papiere haben, aber seit Jahren in Frankreich leben. Ich habe hier viele Frauen aus aller Welt getroffen, die gemeinsam feministisch und antirassistisch kämpfen. Das gibt mir die Stärke weiterzumachen, wenn ich in drei Jahren wieder hierherkomme, werde ich hoffentlich meine Papiere haben.“
Widerstand gegen Grenzgewalt, Pushbacks und Kriminalisierung
Trotz der Erfahrungen von Tod und Entrechtung verharren die Teilnehmer:innen des Transborder Summercamps nicht in Hilflosigkeit und Apathie. Im Gegenteil, sie inspirieren sich gegenseitig durch ihre verschiedenen Projekte und ihre Selbstorganisation. Das Treffen ist ein Ort des Austauschs, an dem verschiedene Kämpfe verbunden und Netzwerke geknüpft werden. Ein junger Mann, der in den Wäldern der polnisch-belarussischen Grenze fliehende Menschen mit dem Nötigsten versorgt, sagt: „Als eine der wenigen wahren internationalen Bewegungen haben wir das Potenzial, für einen wirklichen gesellschaftlichen Wandel zu sorgen. Im gemeinsamen Kampf gegen das europäische Grenzregime arbeiten wir zusammen auf eine Revolution der Gesellschaft hin.“
Ein wesentlicher Fokus des Transborder Summercamps ist es, gemeinsame praktische Ideen zu entwickeln und Lösungen zu finden. Eine wichtige Rolle nehmen dabei die Netzwerke und Aktivist:innen aus der MENA- und der Sahel-Region ein. Durch die Externalisierung der europäischen Grenzschutzpolitiken sind es nicht nur Projekte in Küstenstaaten wie Libyen, Tunesien und Marokko, sondern auch in Ländern wie Mali, Niger und dem Tschad, die eine immer wichtigere Rolle im Kampf gegen die europäische Abschottungspolitik einnehmen.
Das Alarmphone Sahara (APS) im Niger ist eines der Projekte, welches zentral von Aktivist:innen aus der Region getragen wird und auf dem Transborder Summercamp weiterentwickelt wurde. Es soll Fliehende vor dem Verdursten in der Sahara-Wüste retten. Ein Mitte Juli bekanntgegebenes Frontex-Abkommen mit dem Niger könnte die Arbeit von APS gefährden. So sollen gemeinsame polizeiliche „Ermittlungsgruppen“ von Frontex, der EU Capacity Building Mission und nigrischen Sicherheitskräften gebildet werden, die gegen „Terrorismus und illegale Migration“, aber möglicherweise auch gegen humanitäre Helfer:innen von Migrant:innen vorgehen.
Ein weiteres drängendes Thema, das auf dem Treffen diskutiert wurde, sind die zunehmenden illegalen Pushbacks an zahlreichen europäischen Grenzen. Dabei handelt es sich um das illegale Zurückdrängen von Schutzsuchenden, die eine Grenze bereits überquert haben, aber oftmals von paramilitärischen oder Polizeieinheiten unter Anwendung von Waffengewalt, Schlägen und Misshandlung, sowie dem Diebstahl von Kleidung und Wertgegenständen zurückgedrängt werden, beispielsweise an der kroatischen und bulgarischen Grenze. Im Meer werden Pushbacks durchgeführt, indem Menschen in Schlauchbooten von der Küstenwache attackiert werden, um sie zum Umkehren zu zwingen oder aber durch die Auslagerung der Rettungsverantwortung an Gewaltakteure wie die sogenannte libysche Küstenwache, die Menschen in Gefängnislager verschleppt. Insbesondere in Griechenland kommt es immer wieder dazu, dass Asylsuchende, die bereits die griechischen Inseln erreicht haben, von der lokalen Küstenwache in Zusammenarbeit mit der Polizei zurück auf das offene Meer geschleppt und dort auf Rettungsinseln ausgesetzt werden. Diese illegale Praxis wurde erst kürzlich im Memento Moria-Podcast eindrücklich geschildert.
Lebhaft wurden auf dem Camp Widerstandsperspektiven gegen diese Grenzgewalt diskutiert. Einerseits ging es um die Weiterentwicklung bereits laufender Kampagnen und Strategien gegen die europäische Grenzschutzagentur Frontex. Andererseits wurden konkrete Maßnahmen besprochen, wie an Ort und Stelle Pushbacks verhindert werden können, z.B. indem Journalist:innen und Aktivist:innen die Ankunft von Fliehenden vor Ort bezeugen. Dabei stehen sie jedoch unter einem massiven Kriminalisierungsdruck – denn Personen, die in der Nähe von ankommenden Geflüchteten entdeckt werden, droht die Festnahme als vermeintliche Schleuser:innen.
Immer wieder wurde jedoch auf dem Camp betont, dass insbesondere geflüchtete Menschen selbst als Schleuser kriminalisiert werden und drakonische Strafen auferlegt bekommen. Häufig werden Fliehende zu lebenslanger Gefängnishaft verurteilt werden, weil sie die Steuerpinne des Schlauchbootes auf dem Weg nach Europa festhielten oder aber, weil sie im Falle von Seenot einen Notruf an die Küstenwache absetzten. In Griechenland ist die zweitgrößte Gruppe aller inhaftierten Menschen aufgrund von Vorwürfen des „Menschenhandels“ im Gefängnis, darunter zahlreiche Geflüchtete. Seit langem arbeiten verschiedene Gruppen in Kooperation mit lokalen Anwält:innen daran, diese Menschen zu unterstützen, Gerichtsprozesse zu begleiten und Kampagnen gegen die Kriminalisierung von Schutzsuchenden umzusetzen. Nun haben sich einige von ihnen zusammengeschlossen: Nur einen Tag nach Ende des Transborder Camps ging die Seite Captain Support online. Dort werden Fliehende über die Gefahr der Kriminalisierung aufgeklärt und können sich melden, wenn sie selbst oder andere von Festnahmen betroffen sind. Das Netzwerk Captain Support versucht dann juristische Hilfe zu organisieren und, wenn erwünscht, eine politische Unterstützungskampagne durchzuführen.
Diese exemplarisch ausgewählten Initiativen zeigen, dass der weltweite Kampf gegen Entrechtung auch in Anbetracht der sich zunehmend verschlechternden Weltlage weitergeht. Das Transborder Summercamp hat eindrücklich vor Augen geführt, wie wichtig das transnationale Zusammenkommen von Aktivist:innen und Organisationen aus verschiedenen Weltregionen ist. Als „medico international“ sind wir froh, gemeinsam mit einigen unserer Partnerorganisationen teilgenommen zu haben. Wir schließen uns dem Urteil eines Menschenrechtsanwalt aus Ägypten an, der am Ende des Treffens erklärte: „Auf diesem Camp gibt es eine Idee von Solidarität und Widerstand, die es uns erlaubt für unsere Freiheit zu kämpfen.“ Aktuell Panorama
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