Studie
Rahmen für Integration von Ukrainern geschaffen, Umsetzung entscheidet
Ob und wie ukrainischen Geflüchteten die Arbeitsmarktintegration gelingt, hängt auch davon ab, wie strukturelle Risikofaktoren abgemildert werden. Gelingt das nicht, drohen sie in eine „Dequalifizierungsspirale“ zu geraten. Das ist ein Fazit einer aktuellen SVR-Untersuchung.
Mittwoch, 31.08.2022, 20:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 01.09.2022, 14:14 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Die rechtlichen und strukturellen Voraussetzungen für eine erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt sind für ukrainische Geflüchtete gut. Durch die Aktivierung der sog. EU-Massenzustrom-Richtlinie wurden ukrainische Flüchtlinge kollektiv anerkannt; sie haben ein Aufenthaltsrecht und eine Arbeitserlaubnis. Zugleich wurden sie in Deutschland dem Rechtskreis des Sozialgesetzbuchs zugeordnet; dadurch wurden zentrale rechtliche Teilhabebeschränkungen abgebaut. So fasst der wissenschaftliche Stab des Sachverständigenrates für Integration und Migration (SVR) die Ergebnisse einer von der Mercator Stiftung geförderten Untersuchung zusammen.
„Bei den nach Deutschland geflohenen Menschen aus der Ukraine handelt es sich außerdem überwiegend um gut ausgebildete Arbeitskräfte. Zusammen mit den geschaffenen rechtlichen Rahmenbedingungen trägt das dazu bei, dass ihr Risiko, in ein prekäres Arbeitsverhältnis zu kommen, deutlich geringer ist – ganz ausgeschlossen ist es aber nicht“, sagt Holger Kolb, Leiter des Forschungsprojekts.
Besonders wichtig sei deshalb, wie die Regelungen behördlich umgesetzt würden. „Es handelt sich hier um administratives Neuland. Es fehlen Informationen und Routinen. Konkret geht es deshalb darum, wie schnell und reibungsarm Leistungsauszahlung, Weiterbildung und Arbeitsvermittlung im Falle der Flüchtlinge erfolgen, wie gut sie ineinandergreifen und ob dabei individuelle Faktoren berücksichtigt werden können. Es geht um Fragen der Kinderbetreuung, des Spracherwerbs, der Beratung zu sozial- und arbeitsrechtlichen Themen und der zügigen Anerkennung von Qualifikationen“, erläutert Kolb.
„Müllvertrag“
Als Vergleichsgruppe für die Arbeitsmarktintegration wurden ukrainische Staatsangehörige betrachtet, die insbesondere seit dem Wegfall der Visumpflicht im Jahr 2017 vermehrt im deutschen Niedriglohnsektor beschäftigt sind. „Diese Menschen arbeiten überwiegend im juristischen Nischen- und Graubereich des deutschen Arbeitsmarkts, was mit erheblichen rechtlichen und strukturellen Teilhabebeschränkungen verbunden ist“, berichtet Franziska Loschert, wissenschaftliche Projektmitarbeiterin.
Die Auswertung qualitativer Interviews von Fachleuten ergab, dass vor allem solche ukrainischen Betreuungskräfte gefährdet sind, die über private Vermittlungsagenturen mit polnischen Dienstleistungsverträgen in deutschen Privathaushalten arbeiten. „In der Branche wird diese Vereinbarung ‚Müllvertrag‘ genannt: Die Beschäftigten haben häufig keinen Anspruch auf Urlaub oder Krankengeld, sie sind sofort kündbar und es werden keine oder nur geringe Sozialversicherungsbeiträge für sie gezahlt. Das bedroht auch langfristig ihre finanzielle Sicherheit und soziale Teilhabe. Besonders problematisch ist, dass sie meist unangemeldet in Deutschland arbeiten; das macht sie wehrlos gegen Arbeitsrechtsverstöße und ebnet den Weg in die Prekarität“, so Loschert.
Ukrainer mit besserer Ausgangsposition
Ukrainische Geflüchtete haben der Untersuchung zufolge aufgrund des ihnen von der EU zuerkannten Kollektivschutzes eine weitaus bessere Ausgangsposition. „Ein gesicherter Aufenthaltsstatus wie hier über Paragraf 24 Aufenthaltsgesetz kann grundsätzlich das Risiko mindern, in prekäre Arbeits- und Lebensverhältnisse zu rutschen“, fasst Franziska Schork, wissenschaftliche Projektmitarbeiterin, die Forschungsergebnisse zusammen.
Für eine erfolgreiche Integration in den Arbeitsmarkt müssten aber noch weitere Faktoren berücksichtigt werden. So bilden Flüchtlinge generell eine besonders vulnerable Gruppe. „Viele haben traumatische Erfahrungen gemacht, nahestehende Menschen und Besitz zurückgelassen oder gar verloren. Ein Großteil der Flüchtlinge aus der Ukraine sind Frauen – viele von ihnen haben Kinder, für die sie verlässliche und erreichbare Betreuungsangebote brauchen. Auch eine individuelle und gendersensible Beratung ist wichtig, um auf Berufswünsche und -fähigkeiten der Frauen eingehen zu können“, ergänzt Schork.
Risiko: Dequalifizierungsspirale
In Bezug auf die Arbeitsmarktintegration seien verschiedene Szenarien denkbar. „Im besten Fall gelingt den Flüchtlingen nicht nur eine schnelle, sondern auch eine ihren individuellen Qualifikationen angemessene Integration in den Arbeitsmarkt. Voraussetzung dafür ist vor allem die schnelle Anerkennung beruflicher Qualifikationen. Dies wäre auch angesichts des akuten Fachkräftemangels das beste Szenario,“ erläutert Kolb.
Bei einer Beschäftigung unterhalb ihrer Qualifikation könnten Flüchtlinge dagegen schnell in eine Dequalifizierungsspirale geraten. „Das Risiko erhöht sich, wenn sie unter dem Druck stehen, möglichst schnell eine Beschäftigung aufzunehmen, etwa weil sich Leistungsauszahlungen verzögern, die Anerkennung von Qualifikationen nicht beantragt wird oder sehr viel Zeit und Ressourcen in Anspruch nimmt, wenn Sprachkenntnisse unzureichend sind oder Beratungsangebote fehlen. Als Folge können sich prekäre Arbeits- und Lebensbedingungen verfestigen“, so Kolb. (mig) Leitartikel Panorama
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