Abschiebung von Ahmadis
„Nicht einmal in unseren Gräbern sind wir sicher“
Sie gelten als Ungläubige, dürfen nicht wählen, leben in ständiger Gefahr: Ahmadis werden in Pakistan verfolgt – und in Deutschland nach Pakistan abgeschoben. Das Bamf ist sich der Gefahr bewusst und lehnt dennoch die meisten Asylanträge ab.
Von Fabian Goldmann Montag, 05.09.2022, 15:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 12.09.2022, 15:53 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Dutzende Menschen umringen das Fahrzeug. Immer wieder schlagen sie auf einen Mann ein, beschimpfen ihn als „Ungläubigen“, werfen ihm vor, den Propheten beleidigt zu haben, versuchen ihn aus dem Auto zu zerren. In der nächsten Einstellung steht der Mann inmitten der aufgebrachten Menschenmenge: verängstigt, halbnackt, mit geschwollenem Gesicht.
Der Mann aus dem Handy-Video1 ist Shamshad Ali. Deutscher Taxifahrer aus Gießen, 59 Jahre alt, Vater von vier Kindern und Angehöriger der muslimischen Minderheit der Ahmadiyya. Als er am 5. August seine alte Heimat Pakistan besuchte, sei der Anlass eigentlich ein freudiger gewesen: „Mein Vater ist 1971 im Krieg gegen Indien gefallen. Die Armee wollte ihn mit einem ‚Märtyrer‘-Schild an unserem Haus ehren. Das machen die bei jedem Gefallenen so.“ Doch als Nachbarn das Schild entdeckten, seien sie auf ihn losgegangen. „Ich weiß nicht mehr, von wie vielen Leuten ich geschlagen wurde. Sie haben mich ausgezogen, mir gedroht, mich und meine Schwester zu steinigen. Ich war sicher, dass ich sterbe“, erinnert sich Ali.
Leben in Angst
So wie Ali ergeht es Anhängern der Ahmadiyya häufig in Pakistan. Die Gemeinschaft bildete sich Ende des 19. Jahrhunderts um den Prediger Mirza Ghulam Ahmad. Ahmadis verehren ihn als Messias und Nachfolger des Propheten Muhammad. Für manche orthodoxe Muslime ist das Grund genug, sie als „Ungläubige“ zu verfolgen. Angestachelt von Extremistengruppen wie Tahrik-e-labaik kommt es immer wieder zu Übergriffen. Friedhöfe werden geschändet, Gebetsstätten angegriffen – manchmal mit tödlichen Folgen. Zuletzt wurde am 12. August ein Ahmadi in Rabwah im Norden Pakistans auf offener Straße niedergestochen. „Meine Schwiegereltern leben in Pakistan 24 Stunden am Tag in Angst, egal ob beim Einkaufen oder zu Hause“, sagt Ali.
Shamshad Ali floh 1985 nach Deutschland. Wie er fanden in den letzten Jahrzehnten viele Ahmadis hier Zuflucht. Doch immer häufiger würden Asylanträge zurückgewiesen, Menschen, die bereits jahrelang in Deutschland lebten, nach Pakistan abgeschoben werden, berichtet Suleman Malik, der sich bei der Organisation „International Human Rights Committee“ (IHRC) für verfolgte Ahmadis einsetzt. Wie vielen Ahmadis derzeit die Abschiebung drohe, lasse sich nicht genau sagen: „Die Polizei holt die Menschen häufig erst in der Nacht vor dem Flug aus dem Bett. Viele Ahmadis leben deshalb in ständiger Angst.“ Auf 500 bis 600 schätzt Malik die Zahl der Ahmadis, die derzeit in Deutschland von Abschiebungen bedroht sind.
Nur einer von sechs Ahmadis erhält in Deutschland Schutz
Maliks Schätzungen decken sich mit offiziellen Angaben. Über 646 Asyl-Anträge von pakistanischen Ahmadi-Muslimen entschied das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf) im Jahr 2021. Lediglich in 105 Fällen waren die Bescheide positiv (16,3 Prozent). Im ersten Halbjahr dieses Jahres sank die Schutzquote noch weiter: Nur in 58 von 365 Fällen (15,9 Prozent) gewährte die Behörde den Geflüchteten einen Schutz im Sinne der Genfer Konvention, des deutschen Asylgesetzes oder erließ ein Abschiebeverbot.
Einer der Menschen, die in Deutschland keinen Schutz finden, ist Mubarak Ahmad Rahmani. Bis 2015 arbeitete der 50-jährige in Pakistan als Auto-Mechaniker. Nach Angriffen auf seine Fahrzeuge und ihn selbst verließ er 2015 seine Heimat, berichtet Rahmanis Neffe Ghazanfar Ali. Rahmanis Antrag auf Asyl in Deutschland wurde abgelehnt, sechs Jahre lebte er mit Duldung im Land. Seit dem 28. Juli befindet er sich in Darmstadt in Abschiebehaft. „Wenn er nach Pakistan abgeschoben wird, ist er sofort wieder in Gefahr. Wahrscheinlich wird er gleich wegen illegaler Ausreise verhaftet“, ist sich Malik sicher. Auch Fälle, in denen Ahmadis nach ihrer Abschiebung ermordet wurden, habe es schon gegeben.
Diskriminierung in Verfassung festgeschrieben
Verfolgung droht Ahmadis in Pakistan nicht nur durch extremistische Gruppen und wütende Nachbarn. Die Diskriminierung der Ahmadiyya-Gläubigen ist in Pakistan Gesetz. Seit 1974 gelten sie offiziell als Nicht-Muslime. Seit 1984 hat sich ihre Situation noch einmal verschärft: Ahmadi-Bücher werden auf den Index gesetzt, Webseiten gesperrt, der Zugang zu Wahlen verwehrt. Pakistans berüchtigtem Blasphemie-Paragrafen 298 fügte das Militärregime zwei Absätze hinzu, die sich speziell gegen Ahmadis richten. Seitdem dürfen sie ihre Religion nicht mehr öffentlich ausleben, selbst das Verwenden islamischer Allerweltsbegriffe wie „Salam“ und „Allahu Akbar“ kann mit Gefängnis bestraft werden.
Hinzu kommt, dass die Paragrafen „Extremisten als Legitimation zur Gewalt gegen Ahmadis dienen“, heißt es in einem 2021 veröffentlichen Länderbericht von Amnesty International. Schutz vor solchen Übergriffen böten Pakistans Behörden kaum. Angreifer würden entweder gar nicht festgenommen oder bereits am nächsten Tag wieder laufen gelassen. In vielen Fällen seien Polizisten sogar direkt an Gewalttaten beteiligt gewesen. Allein für dieses Jahr listet IHRC drei Fälle auf, in denen Polizeibeamte Ahmadiyya-Friedhöfe verwüsteten. „Sie haben Gräber geöffnet und die Gebeine in der Gegend verteilt. Nicht einmal in unseren Gräbern sind wir sicher“, sagt Malik, der selbst Ahmadi ist.
Auch im Fall von Shamshad Ali aus dem Handy-Video war das Martyrium mit dem Eintreffen der Polizei nicht zu Ende. „Statt meine Angreifer festzunehmen, haben sie mich mitgenommen“, sagt Ali. „Sie sollten mich wegen Blasphemie anklagen, weil am Haus meines Vaters das Wort ‚Märtyrer‘ stand. Dabei hatte die Armee es dort angebracht.“
Das BAMF ist sich der existenziellen Gefahr bewusst
Darauf, dass die Situation für Ahmadis immer gefährlicher wird, weist auch der Hohe Kommissar der Vereinten Nationen für Menschenrechte (OHCHR) hin. In einem gemeinsamen Appell riefen im Juni vergangenen Jahres mehrere Sondergesandte der Vereinten Nationen die Internationale Gemeinschaft dazu auf, „koordinierte Maßnahmen zu ergreifen, um auf die Menschenrechtsverletzungen zu reagieren, denen Ahmadi-Muslime auf der ganzen Welt ausgesetzt sind.“
Warum in Deutschland dennoch weiterhin der Mehrheit der schutzsuchenden Ahmadis kein Asyl bekommt, erklärt das Bamf auf Nachfrage mit allgemeinen Informationen zum Asylverfahren. So führe „die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religionsgemeinschaft nicht automatisch zu einem Schutzstatus.“ Entscheidend sei immer die Einzelfallprüfung. Neben der Glaubwürdigkeit der Verfolgung umfasse dies auch, „inländische Fluchtalternativen zu prüfen.“
An anderer Stelle lässt das Bamf allerdings wenig Zweifel an der Realität von Verfolgung und fehlenden Fluchtmöglichkeiten in Pakistan aufkommen. So schreibt die Behörde in einem 2020 veröffentlichten Länderreport zu Pakistan: Ahmadis sei es in Pakistan „praktisch unmöglich, ihren Glauben frei auszuüben“. Sowohl in Hinblick auf Angriffe durch extremistische Gruppierungen als auch auf den Blasphemie-Paragraphen sähen sich Ahmadis und andere religiöse Minderheiten einer „existenziellen Bedrohung ausgesetzt“. Zudem habe im Berichtszeitraum „keine Region in Pakistan vor religiös motivierter Gewalt Sicherheit geboten.“
In anderen Ländern hat man aufgrund der weitreichenden Verfolgung von Ahmadis deshalb längst Konsequenzen gezogen. In den Niederlanden, dem Vereinigten Königreich und den USA werden Ahmadis schon seit Längerem nicht mehr abgeschoben. Anzeichen, dass Deutschland ihrem Beispiel folgt, gibt es bisher nicht. Als die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock im Juni dieses Jahres mit ihrem pakistanischen Amtskollegen Bilawal Bhutto Zardari zusammentraf, war die Verfolgung der Ahmadiyya im Land kein Thema.
Immerhin konnte Shamshad Ali seinen Angreifern entkommen. Nach einem Anruf der Armee, die über die Herkunft des Märtyrer-Schildes aufklärte, ließ die Polizei ihn gehen. Wenige Stunden später saß er im Flugzeug zurück nach Deutschland. Mubarak Ahmad Rahmani, der in Darmstadt in Abschiebehaft sitzt, scheint weniger Glück zu haben. Trotz Klagen und Proteste steht der Termin für seine Abschiebung fest. Mit 40 bis 50 weiteren Menschen soll sein Abschiebeflugzeug am Dienstag, dem 6. September, von München in Richtung Islamabad starten. (fb)
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