600 Jahre Kultur
Zentralratsvorsitzender: Sinti und Roma beeinflussten Europas Musik
Wenn von europäischer Kultur die Rede ist, werden Sinti und Roma dabei oft leicht vergessen, sagt Romani Rose. Der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma möchte deshalb langfristig neben einer Dauerausstellung auch ein Museum eröffnen.
Von Susanne Lohse Dienstag, 20.09.2022, 15:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 20.09.2022, 14:15 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Zu Besuch im Dokumentations- und Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma in Heidelberg: Am Ausgang liegt geöffnet das Gästebuch. „Wir sind tief bewegt von der Ausstellung“ hat gerade eben ein junges Paar hineingeschrieben. „Das dürfen wir nie vergessen“ ist in englischer, italienischer und deutscher Sprache zu lesen.
Die auf drei Etagen verteilte historische Dauerausstellung erinnert an die Ermordung von Sinti und Roma durch die Nationalsozialisten. Es sind Bilder, die sich ins Gedächtnis brennen: bis zum Skelett abgemagerte Kinder und Erwachsene, Leichen auf Feldern und Straßen, Flüchtende.
Bilder des Grauens
Die Bilder des Grauens im Heidelberger Dokumentations- und Kulturzentrum kontrastieren mit der Normalität des Lebens aus der Zeit vor 1933. Alltagsszenen zeigen fröhliche Familien, spielende Kinder, Männer in Uniformen, die fürs Kaiserreich in den Krieg zogen. Die Fotografien machen deutlich, dass Sinti und Roma einmal Teil der deutschen Gesellschaft waren.
Das Dokumentations- und Kulturzentrum wurde 1997 eröffnet. Träger der Gedenkstätte ist der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma. Die Einrichtung wird von der Bundesregierung und vom Land Baden-Württemberg gefördert.
Die „Sündenbockfunktion“
Die Bevölkerungsgruppe habe, wie Menschen jüdischen Glaubens, über viele Jahrhunderte „Sündenbockfunktion“ gehabt, sagt Romani Rose dem „Evangelischen Pressedienst“. Der Vorsitzende des Dokumentations- und Kulturzentrums weiß, wovon er spricht. 13 Menschen aus seiner Familie wurden von den Nazis ermordet.
Die Bundesrepublik hat die Verbrechen an Sinti und Roma 1982 anerkannt. Antiziganismus sei dennoch bis heute weit verbreitet, betont Rose. Laut einer Meinungsumfrage der Antidiskriminierungsstelle der Universität Leipzig lehnten mehr als die Hälfte der Deutschen Sinti und Roma in der Nachbarschaft oder bei der Arbeit ab, so der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma.
600-jährige Geschichte
Neben der Erinnerung an die NS-Verfolgung geht es dem Vorsitzenden um die Wahrung der Kultur. Langfristiges Ziel ist es für Rose, neben der Dauerausstellung zur Geschichte auch ein Museum für die Kultur der Sinti und Roma zu eröffnen. „Wir haben eine über 600-jährige Geschichte“, betont Rose. Da seien gegenseitige kulturelle Einflüsse nicht ungewöhnlich. Der spanische Flamenco etwa gehe auf die „gitanos“ zurück.
„Kein Kulturschaffender schafft sein Werk allein“, sagt Rose. Als Beispiel nennt er unter anderem Django Reinhardt. Der in Frankreich geborene Komponist gilt als Begründer des europäischen Jazz. In seinem innovativen Stil verknüpfte Reinhardt verschiedene Traditionen: Walzer-Folklore, Swing, Beat und Tonleitern der Sinti-Musik, die bis auf indische Raga-Wurzeln zurückreichen.
Rose: „Wir sind Deutsche“
Mit dem geplanten Museum will Rose den Einfluss der Sinti und Roma auf die europäische Kultur wieder ins Bewusstsein bringen. Noch liegen gesammelte Objekte gut verwahrt in einem Hinterzimmer, etwa der Frack, die Schuhe und der Taktstock von Riccardo M. Sahiti. Der Dirigent trug die Kleidungsstücke bei der Weltpremiere des ersten „Roma und Sinti Philharmoniker“ Konzerts in Frankfurt am Main am 3. November 2002. Diese Gegenstände, Dokumente und Urkunden sollen eines Tages öffentlich zugängig sein.
An der Debatte um kultursensible Sprache beteiligt er sich nicht. „In meiner politischen Arbeit spielt das ‚Zigeunerschnitzel‘ keine Rolle“, sagt er. Man könne nicht ganze Opern wie den Zigeunerbaron oder Carmen auf „Sinti und Roma“ umschreiben. Wichtig sei es vielmehr, die alltäglichen Vorurteile am Arbeitsplatz oder in der Nachbarschaft auszuräumen. „Wir sind deutsche Staatsbürger“, betont Rose. Historisch betrachtet, gehe es nicht um „Weitergabe von Schuld“, sondern um die Übernahme von Verantwortung. „Es ist unsere gemeinsame Aufgabe, die Demokratie zu verteidigen“, sagt der Zentralratsvorsitzende. (epd/mig) Feuilleton Interview Leitartikel
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