Exklusiv-Buchauszug Teil II
Die Willkommensgesellschaft. Eine konkrete Utopie
In 16 Reportagen berichtet Lukas Geisler von zivilgesellschaftlichen Initiativen, Projekten und Menschen, die an der konkreten Utopie einer anderen, einer offenen Gesellschaft arbeiten. Der zweite Buchausschnitt behandelt die theoretische Einbettung der Reportagen in die „Willkommensgesellschaft“ - eine exklusive Vorveröffentlichung.
Von Lukas Geisler Mittwoch, 05.10.2022, 15:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 02.10.2022, 11:34 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
Utopien sind – historisch gesehen – Ausdruck der Defizite und Missstände ihrer Herkunftsgesellschaften. Doch neben der kritischen Analyse der Gegenwart sind sie konstruktive Gegenbilder zur Wirklichkeit. Geprägt hat den Begriff Thomas Morus mit seiner Erzählung über die Insel „Utopia“ von 1516. Damit kreierte er eine neue Vokabel. Etymologisch leitet sich das Wort aus dem Altgriechischen her und bedeutet Nichtort (ou „nicht“ und tópos „Ort, Stelle“). Allerdings gibt es noch eine zweite Herleitung, nämlich mit dem griechischen Wort eu, also „gut“. So kann die Utopie entweder als Nichtort, also rein fiktiv, oder als guter Ort gedeutet werden. Fiktionales bildet dieses Buch nicht ab. Es handelt von konkreten Orten. Was allerdings fiktional ist, ist die Utopie der Willkommensgesellschaft.
„Sie ist nicht etwa Nonsens oder bloße Schwärmerei, sondern sie ist noch nicht im Sinne einer Möglichkeit, dass es sie geben könnte, wenn wir etwas dafür tun.“ Ernst Bloch
Ernst Bloch geht es bei der Utopie um eine Konkretion von Möglichkeit und Tradition. Er fragt nach der Funktion der Denkfigur des Utopischen. So ist für ihn jede Gesellschaft eine Art Vorgriff eines noch nicht Gelungenen oder Noch-nicht-Gekommenen. In jeder Gesellschaft sind also schon Utopien veranlagt. In einer Sozialutopie geht es überwiegend um menschliches Glück. Dieses ist nicht subjektiv, also einzeln möglich, sondern hängt von gesellschaftlichen Bedingungen ab und muss daher intersubjektiv, also als etwas Zwischenmenschliches, verstanden werden. Was allerdings dieses soziale Glück ist, kann nur von utopischem Denken umkreist werden. Man soll und darf es nicht festlegen. Festlegen, was die Utopie der Willkommensgesellschaft ist, möchte auch ich nicht. Die Einrichtung einer solidarischen Gesellschaft muss gemeinsam ausgehandelt werden. Doch als Möglichkeitssinn gedacht, können bestehende Ungleichheitsverhältnisse entlarvt werden. Die konkrete Utopie ist also immer erst einmal Maßstab von Kritik. Es müssen Ermöglichungsbedingungen für Utopien geschaffen werden. Ernst Bloch als Philosoph möglicher Zukunft redet dafür viel über die Gegenwart und Vergangenheit. Denn Utopien lösen sich nicht davon ab, sondern sind Vorgriffe, die immer einen Bezug haben müssen. Dabei verbleibt Bloch nie im Theoretischen, sondern Denkfigur der konkreten Utopie ist eine Theorie der Praxis. An der Suche nach echter Utopie hält Bloch sein Leben lang fest. Erst in der Emigration in den USA, wo sein Hauptwerk Das Prinzip Hoffnung entsteht, dann in der DDR und schließlich in der Bundesrepublik. Er stirbt am 4. August 1977 in Tübingen. Was bleibt, ist eine mögliche Zukunft in der Vergangenheit und Gegenwart. Dabei beginnt das Denken der konkreten Utopie schon auf der Ebene der kleinen Kämpfe, denn auch diese vermögen Solidarität zu stiften.
Der französische Philosoph Michel Foucault setzt bei ebenjenen kleinen Kämpfen an, aber installiert eine andere Herangehensweise. Während Bloch eher eine zeitliche Konstruktion der konkreten Utopie beschreibt, setzt Foucault auf eine Raumkonzeption. Für Bloch sind konkrete Utopien noch nicht eingetreten, aber im Hier und Jetzt veranlagt. Foucault aber schreibt, dass wir uns in der „Epoche des Simultanen“, also des gleichzeitig Passierenden, befänden. Diese Epoche beschreibt er als die „des Nahen und Fernen, des Nebeneinander, des Auseinander“. Nach seiner Ansicht sind wir in einem Moment, „wo sich die Welt weniger als ein großes sich durch die Zeit entwickelndes Leben erfährt, sondern eher als ein Netz, das seine Punkte verknüpft und sein Gewirr durchkreuzt“. Warum dies wichtig ist? Es gibt im Hier und Jetzt ein Grenzregime, dass das biologische Leben von Menschen infrage stellt, aber es gibt auch andere Räume, Gegenbewegungen und so weiter, die nicht in der Zukunft verortet sind, sondern schon im Hier und Jetzt existieren. Foucault begreift Utopien als „Platzierungen ohne wirklichen Ort“ und übernimmt damit die etymologische Herleitung der Utopie als Nichtort. Daran angelehnt, entwickelt er ein neues Konzept:
„Es gibt gleichfalls – und das wohl in jeder Kultur, in jeder Zivilisation – wirkliche Orte, wirksame Orte, die in die Einrichtung der Gesellschaft hineingezeichnet sind, sozusagen Gegenplatzierungen oder Widerlager, tatsächlich realisierte Utopien, in denen die wirklichen Plätze innerhalb der Kultur gleichzeitig repräsentiert, bestritten und gewendet sind, gewissermaßen Orte außerhalb aller Orte, wiewohl sie tatsächlich geortet werden können. Weil diese Orte ganz andere sind als alle Plätze, die sie reflektieren oder von denen sie sprechen, nenne ich sie im Gegensatz zu den Utopien die Heterotopien.“
Diese Heterotopien sind andere Räume, und zwar wirksame und wirkliche Räume, die im Jetzt existieren, aber an den Rändern angesiedelt sind und komplett anders funktionieren. Damit bauen sie wirkliche und wirksame Gegenbilder auf – ohne sich dabei auf Zukünftiges zu beziehen. Sie haben einen fassbaren Ort. Diese anderen Räume können für Foucault Gärten, Verstecke von Kindern, Friedhöfe oder Schiffe sein. Allerdings können andere Räume auch dazu dienen, Menschen, die als ›anders‹ markiert werden, aus der Gesellschaft auszuschließen, wie Gefängnisse, psychiatrische Anstalten oder Altersheime.
Ich möchte das eu der Utopie, also das Gute, der anderen Räume reaktivieren und diese anderen guten Räume ganz konkret abbilden. Die Willkommensgesellschaft erzählt von Menschen und Projekten, die den vorherrschenden rassistischen gesellschaftlichen Strukturen und kolonial geprägten Grenzregimen andere, gute Räume konkret entgegenstellen. Sie sind an den Rändern und Zwischenräumen der Gesellschaft angesiedelt. Der zeitliche Horizont der Willkommensgesellschaft ist der Anspruch, dass diese guten anderen Räume aus dem Schatten der gegenwärtigen Realität heraustreten und ihren Platz in der Mitte der Zivilgesellschaft beanspruchen.
Lukas Geisler
Die Willkommensgesellschaft
Eine konkrete Utopie
ISBN: 978-3-96238-393-0
Softcover, 192 Seiten
Erscheinungstermin: 06.10.2022
Eine ähnliche Richtung schlägt Harald Welzer, der mit Dana Giesecke FUTURZWEI gegründet hat, ein. Er plädiert für kleinstmögliche Zustandsveränderungen statt einer großen Transformation. Für ihn stellt dies eine Art von Wirklichkeitsgymnastik dar. Zwar geht es auch darum, illusionäre Welten aufzubauen, die utopischen Charakter haben, allerdings durch eine Revolution oder besser: mehrere Revolutionen im Kleinen den normativen Anspruch des Guten ernst nehmen. Für ihn „überzeugen die einzelnen Entwürfe und Erprobungen nicht dadurch, dass es schön wäre, wenn es sie gäbe, sondern dadurch, dass es sie gibt, dass man sie anschauen, ausprobieren, erleben kann. Die Gesamtheit dieser angewandten ›kleinen Transformationen‹ oder konkreten Utopien ergibt modulare Revolutionen, ein Mosaik gelingender Verbesserungen der Welt – eben nicht die Verbesserung der Welt. Und die eine große Utopie wird zur Heterotopie – zu vielen Geschichten an vielen Orten.“
Im Anschluss an Bloch, Foucault und Welzer handelt dieses Buch vom Heranwachsen des Neuen in den Nischen des Alten, von Keimformen eines anderen gesellschaftlichen Zusammenlebens, Emanzipation und dem Um-sich-Sorge-Tragen. Die Reportagen im Buch, die bei FUTURZWEI „Geschichten des Gelingens“ genannt werden, sind genau das: andere Räume, Nischen, Keimformen, die von Initiativen geschaffen werden. Sie setzen an der dystopischen Realität an, aber versuchen sich daran, anderes zu schaffen. Dabei erzählt es keine lineare Geschichte. Jede Reportage, jedes Feature und jeder Exkurs steht für sich und kann somit auch für sich gelesen werden. Zusammengehalten wird es von der Vorstellung, konkrete Utopien dieser Gesellschaft abzubilden. Ich nenne sie die Willkommensgesellschaft.
Dabei grenzt sich eine Gesellschaft, die willkommen heißt, von einer schlichten Willkommenskultur ab. Denn die sogenannte Willkommenskultur von 2015 und 2016 ging Hand in Hand mit dem Asylrechtsabbau. Außer Frage steht, dass „hegemoniale Kräfte in Staat, Politik und Medien im Verbund mit den rechtspopulistischen Argumentationen von CSU und AfD ganze Arbeit geleistet haben, um den anfänglichen positiven Konsens und die breite Offenheit gegenüber der Migrationsbewegung abzuwürgen“. So wurde die Zuwanderung vor allem aus Nordafrika und Westasien als soziale, ökonomische und ›zivilisatorische‹ Überlastung konstruiert. So wurde der Willkommenskultur eine kreierte moralische Panik entgegengesetzt, indem eine bedrohliche ›Kultur‹ herbeigeredet und eine Identitätskrise beschworen wurde. Auch Politiker:innen anderer Parteien übernahmen diese Erzählung und fabulierten von „Grenzschutz, Asyl-Obergrenzen und Abschiebungen in Kriegsgebiete“. Zwar hat die Bundesregierung den oberflächig pragmatischen Kurs mit der merkelschen Floskel „Wir schaffen das“ beibehalten. Allerdings ist staatliches Handeln gegenüber solidarischen Praktiken vor Ort, die unter dem Namen „Willkommenskultur“ bekannt wurden, nie über diese Oberflächlichkeit hinausgegangen.
Doch die solidarischen Praktiken der Zivilgesellschaft existierten fort. Um zu der konkreten Utopie einer Willkommensgesellschaft zu kommen, sind viele kleine konkrete Utopien nötig. Zusammengenommen müssen sie so viel Wirkkraft entwickeln, dass sie nicht nur eine Kultur sind, sondern reale wirksame Strukturen entstehen lassen, die eine andere Gesellschaft begründen. Sie als Leser:in können sich also auf eine Reise begeben, die Sie selbst gestalten können und deren Verlauf Sie bestimmen. Manche Reportagen sprechen vielleicht einige mehr, andere weniger an. Doch in der Gesamtheit ist damit die Hoffnung verbunden, dass auch Sie bald selbst handelnde Protagonist:in einer solchen Reportage, einer Geschichte des Gelingens, werden. Denn die „Willkommensgesellschaft“ muss als ein Aufruf verstanden werden, selbst an ihr mitzuwirken, sie zu beeinflussen und sie in einem komplexen gesellschaftlichen Kontext wirklich und wirksam werden zu lassen.
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