Interview mit Christopher Hein
„Das Leben für Migranten in Italien wird schlimmer werden.“
Nach den Wahlsiegen der rechtsnationalistischen Parteien in Italien erwartet der Migrationsforscher Christopher Hein eine Verschärfung der italienischen Flüchtlingspolitik, aber keine große Konfrontation mit der EU. Den anderen EU-Staaten empfiehlt er, Italien beim Thema Flüchtlinge entgegenzukommen.
Von Nils Sandrisser Montag, 03.10.2022, 17:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 03.10.2022, 12:23 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Herr Hein, Italien hat rechtsnationalistische Parteien in die Regierung gewählt, neue Ministerpräsidentin wird wahrscheinlich Giorgia Meloni, die Vorsitzende der Partei Fratelli d’Italia. Was erwarten die Menschen dort nun von dieser Regierung hinsichtlich der Flüchtlingspolitik?
Christopher Hein: Flüchtlinge, Migration und Asyl waren kein prominentes Thema im Wahlkampf, anders als in früheren Wahlkämpfen. Es gibt andere Probleme, die dringender sind, nämlich die Abfolge von Krisen: die wirtschaftlichen Nachwirkungen der Corona-Pandemie, der Krieg in der Ukraine und jetzt in dessen Folge die Energiekrise. Das führt zu Verunsicherung, und infolge der Verunsicherung greift man zu dem, der die einfachsten Versprechungen macht. Eine dieser Versprechen ist das „Wir Italiener zuerst“, ausdrücklich eine Formel von Salvini.
Als Matteo Salvini, der Parteichef der Lega Nord, zwischen 2018 und 2019 Innenminister war, behinderte er massiv die Arbeit von Hilfsorganisationen, die im Mittelmeer Flüchtlinge retten. Er verweigerte Rettungsschiffen das Anlegen oder beschlagnahmte Schiffe. Erwarten Sie nun wieder eine solche Verschärfung der italienischen Politik?
„Meloni hat wiederholt von einer Seeblockade gesprochen. … Diese Sprache ist ein klarer Hinweis auf die Richtung, in die die zukünftige Migrations- und Asylpolitik gehen wird.“
Christopher Hein: Manche glauben, für diese Frage sei enorm wichtig, wer Innenminister wird. Salvini will es wieder werden, am Mittwoch verlautbarte er, die Lega werde sich nicht an der Regierung beteiligen, wenn er nicht Innenminister werde. Für mich ist aber nicht die zentrale Frage, wer dieses Ministerium bekommt. Mit oder ohne Salvini wird es einen Rollback geben. Meloni hat wiederholt von einer Seeblockade gesprochen. Ohne dass man weiß, was das genau bedeuten soll. Aber diese Sprache ist ein klarer Hinweis auf die Richtung, in die die zukünftige Migrations- und Asylpolitik gehen wird.
Info: Migrationsforscher Christopher Hein forscht und lehrt am Politikwissenschaftlichen Institut der Libera Università Internazionale degli Studi Sociali (LUISS) in Rom.
Hilfsorganisationen dürften wieder diffamiert werden als Schlepper und Profiteure des Flüchtlingselends. Diese ganze Rhetorik wird wieder da sein, aber es wird nicht nur Rhetorik sein, sondern konkrete Maßnahmen werden folgen. Die Möglichkeiten, überhaupt Asyl zu erhalten, dürften geringer werden.
Hilfsorganisationen beklagten allerdings schon unter der Regierung Mario Draghis Behinderungen ihrer Arbeit und juristische Verfolgung. Teilweise gab es sogar den Vorwurf, Salvini sei in Bezug auf Flüchtlingsrettung nicht repressiver gewesen als seine Nachfolger, er habe darüber nur mehr Getöse veranstaltet.
„Auf der ideologischen Grundlage, auf der die neue Regierung antreten wird, ist es aber klar, dass das Leben für Migranten in Italien schlimmer werden wird.“
Christopher Hein: Diese Einschätzung ärgert mich. Das hieße, zu beschönigen, was 2018 und 2019 geschehen ist – dass Schiffe zum Teil wochenlang das Anlegen verweigert wurde, oder nehmen wir zum Beispiel die Verhaftung der Kapitänin Carola Rackete. Tatsächlich hat die Regierung Draghi die Situation von Flüchtlingen in einigen Beziehungen verbessert im Vergleich zu vor 2020, etwa mit der im Dezember 2020 erfolgten Annullierung oder Entschärfung von Salvinis Sicherheitsdekreten. Das soll nicht heißen, dass auch noch unter der alten Regierung den Flüchtlingshelfern das Leben hier und da schwer gemacht worden ist, vor allem von lokalen Behörden und Staatsanwälten, aber nicht als allgemeine politische Linie. Auf der ideologischen Grundlage, auf der die neue Regierung antreten wird, ist es aber klar, dass das Leben für Migranten in Italien schlimmer werden wird, und dass viele versuchen werden, über andere Routen nach Europa zu kommen, nicht mehr über Italien.
Derzeit kooperiert Italien ja mit Libyen, ein italienisches Kommandoschiff koordiniert die Seenotrettung dort. Erwarten Sie auch diesbezüglich Veränderungen?
Christopher Hein: Die italienische Finanzierung der Kooperation ist im Juli um ein Jahr verlängert worden. Das bedeutet, dass Italien an der Rückschaffung von Flüchtlingen beteiligt ist. Da erwarte ich, dass diese Kooperation verstärkt wird, gleichzeitig wird man die Menschenrechtsverletzungen in Libyen schönreden. Und Italien könnte auch mit Tunesien Abkommen schließen, um die Repatriierung zu beschleunigen. Ich erinnere daran, dass die meisten Bootsankünfte seit einiger Zeit schon gar nicht mehr als Libyen kommen, sondern aus Tunesien.
Wie sehen Sie die Rolle der anderen EU-Staaten?
„Wünschenswert wäre, dass das bestehende freiwillige Abkommen in die Tat umgesetzt wird und dass die Zahl der Umzuverteilenden erheblich steigt. Das könnte den Druck der öffentlichen Meinung auf die zukünftige italienische Regierung erheblich sinken lassen.“
Christopher Hein: Italien hängt finanziell von der EU ab. Und Meloni ist nicht Salvini. Sie hat Interesse daran, den Nimbus als Neofaschistin abzustreifen und wird vorsichtig sein in Hinsicht auf eine Politik, die Grundwerten der EU zuwiderläuft. Insofern wäre es schon gut, wenn vonseiten der anderen EU-Staaten Zeichen gesetzt werden, dass sie offen sind für italienische Interessen. Seit Anfang August beteiligen sich 22 Staaten – nicht nur aus der EU, sondern beispielsweise die Schweiz oder Norwegen – an einer IT-Plattform, über die Flüchtlinge auf diese Länder verteilt werden. Allerdings nicht nur Flüchtlinge aus Italien, sondern aus fünf Mittelmeerländern. Das ist aber alles freiwillig, und faktisch haben nur zwei Länder schon mit Übernahmen begonnen, nämlich Deutschland mit 3.500 und Frankreich mit 3.000. Das ist ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Aber allein in Italien sind in den vergangenen Monaten mehr als 70.000 Migranten und Flüchtlinge angekommen. Wünschenswert wäre, dass das bestehende freiwillige Abkommen in die Tat umgesetzt wird und dass die Zahl der Umzuverteilenden erheblich steigt. Das könnte den Druck der öffentlichen Meinung auf die zukünftige italienische Regierung erheblich sinken lassen.
Sehen Sie Chancen für einen neuen Anlauf für einen festen EU-Verteilungsschlüssel? Viele osteuropäische Staaten hatten sich ja dagegen gewehrt, die nun aber selbst viele Flüchtlinge zu versorgen haben, nämlich aus der Ukraine. Sie würden also nun auch profitieren.
Christopher Hein: Polen zum Beispiel hat keinen Antrag zur Umsiedelung von Ukrainerinnen und Ukrainern aus Polen gestellt. Es gibt Leute, die meinen, das sei ein politisches Kalkül: Polen wolle seine Flüchtlinge alleine versorgen und dafür in Bezug auf Flüchtlinge aus anderen Ländern in Ruhe gelassen werden. Neben Polen waren ja auch andere osteuropäische Staaten und Österreich gegen den Verteilungsschlüssel. Eine Chance für ein verpflichtendes Abkommen zur Umsiedlung von Asylsuchenden ist erst einmal nicht in Sicht. (epd/mig) Leitartikel Politik
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