Anwerbung von Fachkräften
Mangelnde Solidarität mit Herkunftsländern
Fachkräfte anzuwerben ist ichbezogen und sozial ungerecht! Das Konzept der Zirkulärmigration dagegen birgt eine mögliche Alternative zur Fachkräfteanwerbung.
Von Clemens Becker Sonntag, 06.11.2022, 17:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 06.11.2022, 12:45 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Die Freizügigkeit für Erwerbstätige ist eine der meistgelobten Errungenschaften der Europäischen Union. Angesichts der teils immensen Auswanderung aus weniger entwickelten Ländern und der anschließenden Einwanderung in die wirtschaftlich stärkeren Industrieländer kann diese Freiheit jedoch auch schwerwiegende Probleme mit sich bringen, und zwar für die weniger entwickelten Länder. Aufnahmeländer setzen große Hoffnungen in Zugewanderte – so auch Deutschland.
Im Jahr 2013 kündigte die damalige Bundesregierung die Umsetzung einer Ausweitung der Anwerbung von Fachkräften an. Man suchte insbesondere Pflegekräfte. Nun schreibt man das Jahr 2022 und die neue Bundesregierung sucht noch immer. Im Ampel-Koalitionsvertrag sieht man eine weitere Ausweitung der Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland vor. Der Elefant im Raum bei alldem: Diese Fachkräfte fehlen selbsterklärenderweise im Herkunftsland – welches plausiblerweise somit auf noch mehr auf Fachkräfte angewiesen ist. So sieht internationale Solidarität gewiss nicht aus. Die unausgesprochene ichbezogene, ja nationalistische Haltung lautet: Ein weniger entwickeltes Land muss für unser Wohlstandsproblem, den Fachkräftemangel herhalten.
Es gibt theoretische Instrumente, um solche fatalen politischen Prozesse auf internationaler Ebene zu untersuchen. Dazu gehört die Weltsystem-Analyse, eine vor allem von Immanuel Wallerstein entwickelte, deskriptiv angelegte Analyse. Nach ihr gibt es innerhalb eines Weltsystems drei hierarchisch angeordnete globale Schichten, darunter die sogenannte Peripherie, die von den Kernländern in der Bereitstellung von Ressourcen abhängig ist. In einer Zusammenfassung seiner Analyse schreibt Wallerstein, dass Weltwirtschaft und ein kapitalistisches System zusammengehören. Er fährt fort: „Da den Weltwirtschaften der verbindende Kitt einer übergeordneten politischen Struktur oder einer homogenen Kultur fehlt, ist das, was sie zusammenhält, die Effizienz der Arbeitsteilung”.
„Während bei Marx der Kapitalist, als Ausbeuter, und der Arbeiter, als Ausgebeuteter, einander gegenüberstehen, sind bei Wallerstein die Zentrumsländer die Ausbeuter und die Peripherie die Ausgebeuteten.“
Damit hebt er die Marxschen Gedanken zum Kapitalismus auf eine globale Bühne. Während bei Marx der Kapitalist, als Ausbeuter, und der Arbeiter, als Ausgebeuteter, einander gegenüberstehen, sind bei Wallerstein die Zentrumsländer die Ausbeuter und die Peripherie die Ausgebeuteten. So kann seine Analyse, die vier Bände umfasst, in aller Kürze dargestellt werden. Industrieländer wie Deutschland ordnet er den Zentrumsländern, also den Ausbeutern zu. Diese sind in der Regel Aufnahmeländer von Migrationsströmen. Auswanderungsländer gehören in seiner Analyse hingegen der Peripherie an.
Weisen die zuvor beschriebenen Migrationsprozesse demnach Merkmale auf, die in der Weltsystem-Analyse skizziert werden? Es ist zumindest plausibel. Nehmen wir Rumänien und die gewünschten Pflegekräfte. Deutschlandfunk Kultur drückte die Crux bereits vor 4 Jahren recht treffend und anschaulich aus: „Wenn also Ihr Arzt, Ihre Ärztin Griechisch, Rumänisch, Bulgarisch oder Polnisch spricht, dann ist dies ein Anzeichen dafür, dass sie oder er zwar in einem anderen Land mit einigem Aufwand an Steuergeldern bis zum medizinischen Abschluss gebracht wurde, nun aber hierzulande das Gesundheitssystem bereichert. Während umgekehrt kaum jemand zum Beispiel in das rumänische Gesundheitssystem einwandert.“
„Rumäniens Brain-Drain ist Deutschlands Brain-Gain, der Gewinn dieser klugen Köpfe… Dass man rumänische Pflegekräfte gerne für sich gewinnt, leuchtet bei rationaler Betrachtung ein, nicht aber bei empathischer.“
Das Ganze wird noch klarer, wenn man betrachtet, dass die rumänische Auswanderung gen Aufnahmeländer in den vergangenen Jahren immens stieg. Zwischen 2014, dem Jahr als Rumänien Teil der Arbeitnehmerfreizügigkeit wurde, und 2019 wanderten fast 1,3 Millionen Menschen hauptsächlich nach Westen. Die Nettomigrationsrate von Ärztinnen und Ärzten, also Fachkräften, liegt deutlich höher als im EU-Durchschnitt. Das nennt man Brain-Drain, also Verlust von klugen Köpfen. Rumäniens Brain-Drain ist Deutschlands Brain-Gain, der Gewinn dieser klugen Köpfe. Und Deutschland kann das freuen – die rumänischen Ärmsten der Armen, die sich eine Migration erst gar nicht leisten können, aber wohl kaum. Dass man rumänische Pflegekräfte gerne für sich gewinnt, leuchtet bei rationaler Betrachtung ein, nicht aber bei empathischer. Wegen schlechter Arbeitsbedingungen, aber auch wegen der miesen Bezahlung werfen in Deutschland verständlicherweise immer mehr Pflegekräfte die Spritze ins Korn. Verständlich ist auch, dass die Eingewanderten hingegen beides auf sich nehmen, denn das Gehalt ist noch immer höher als in der Heimat. Völlig unverständlich ist dennoch, weshalb diese gesellschaftlich so wertvolle Knochenarbeit im Vergleich zu anderen Berufen so gering entlohnt wird. Die grundlegenden Faktoren der Weltsystemanalyse scheinen erfüllt, und das sollte der Regierung und uns zu denken geben – darüber, wie wir mit Herkunftsländern umgehen.
Keine Anwerbung von Fachkräften aus dem Ausland also? Nein, zumindest nicht so. Die derzeitige Praktik birgt eine ganz offenbare Deckung des Arbeitskraftbedarfs auf Kosten derer, die es im Heimatland am dringendsten benötigen. Gut, wer meckert, sollte auch Alternativen für eine Lösung anbieten. Zum einen bietet es sich an, die anderen Maßnahmen der Bundesregierung auszuweiten, wie die gezielte Weiterbildung. Gerade das erscheint sinnvoll, da laut ifo-Institut 72 Prozent der befragten Deutschen berufliche Weiterbildungen für gute Maßnahmen halten, „um mit dem Strukturwandel Schritt zu halten“.
Und die Einwanderungspolitik? Hier sollte es eine Alternative sein, die sowohl für das Herkunfts- als auch das Aufnahmeland nützlich ist. Sie kann lauten: Zirkulärmigration. Das Prinzip dieses Ansatzes ist nicht neu. Es wurde in der BRD ebenso wie in der DDR praktiziert, zumindest mehr oder weniger. Denn was beiden wohl nicht lieb sein mochte: Sie missachteten weitgehend Gleiches, als sie dieses Prinzip anwandten. Das Pendant der türkischen Gastarbeiter in der BRD waren in der DDR die vietnamesischen Neuankömmlinge. Beide Einwanderungsgruppen wurden aufgrund Arbeitskraftmangels angeworben, und beide wurden dabei viel zu oft von der einheimischen Gesellschaft in unzumutbare Behausungen segregiert – das heißt räumlich zu ihrem Nachteil von der der einheimischen Gesellschaft getrennt – und zudem schlecht entlohnt. Der Spracherwerb war oft ungesteuert und zufällig. Insgesamt war es eine Umsetzung einer Zirkulärmigration, wie sie von vorne bis hinten nicht sein sollte. Denn in der BRD blieben in der Regel die Angeworbenen im Aufnahmeland – also nicht im Sinne einer Zirkulärmigration. Die von der DDR vietnamesischen Angeworbenen wurden unter unwürdigen Bedingungen ins Heimatland zurückgeschickt – also nicht im Sinne einer Solidargemeinschaft.
„Schon im Jahr 2007 hatte die EU-Kommission zu Programmen der Zirkulärmigration angeregt. Doch in konkrete programmatische Formen wurde bis heute nichts gegossen.“
Schon im Jahr 2007 hatte die EU-Kommission zu Programmen der Zirkulärmigration angeregt. Doch in konkrete programmatische Formen wurde bis heute nichts gegossen. OK, in gewisser Weise wiederum besteht auf EU-Ebene eine Zirkulärmigration, allerdings erneut auf eine denkbar schlechte Weise. Temporäre Aufenthalte sind noch immer viel von Saisonarbeit geprägt, die vergleichsweise wenig entlohnt wird.
Eine solidarische Zirkulärmigration darf den eigenen Nutzen fokussieren und dabei nicht das Herkunftsland beeinträchtigen. Das kann durch eine Lastenverteilung geschehen, ein Beispiel: Die Ausbildung erfolgt im Herkunftsland – eventuell vom temporären Aufnahmeland finanziell unterstützt bis vollständig getragen – für eine zuvor festgelegte Zeit wird der Beruf im Aufnahmeland fortgesetzt, wobei die sprachliche, soziale, bestenfalls auch emotionale (d. h. die Identifikation mit dem Aufnahmeland) Integration bewusst gefördert wird. Zurück in der Heimat wird die Ausübung des Mangelberufes fortgesetzt – unter gleichen Vergütungsbedingungen. Das Spiel kann auch andersherum gespielt werden: Die Ausbildung erfolgt im Aufnahmeland – unter genannten Integrationsbedingungen versteht sich – die letztendliche Berufsausübung in der Heimat. Notwendig, zu erwähnen, dass dies unter gleichen Vergütungsbedingungen geschehen muss? Hoffentlich nicht.
Zugegeben, einen prominenten Haken gibt es. Es besteht die Befürchtung, dass mit steigendem Wohlstand aufgrund mehr Fachkräfte im Heimatland auch der Migrationswille steigt. Demnach wäre nur mit Parität des Entwicklungsstandes zwischen Herkunft- und Aufnahmeland ein weiterer Brain-Drain zu verhindern. Und da man einen Aus- bzw. Einwanderungswillen gesetzlich nur sehr schwer beschränken kann, bleibt eine zweigeteilte Möglichkeit: dass potenzielle Fachkräfte den Mut fassen, ihr Bestes im Heimatland zu versuchen, und dass sich das temporäre Aufnahmeland zur internationalen Solidarität bekennt. Meinung
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