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Miriam Rosenlehner, Migazin, Portrait, Rassismus, Schriftstellerin, Buch
Miriam Rosenlehner © privat, Zeichnung: MiGAZIN

Ansichten & Aussichten

Cancel Culture – Wem nützt es?

Cancel Culture ist heute ein Kampfbegriff der Rechten - und ihre Propagandastrategie geht auf. Verlierer sind die Zielpersonen. Sie sitzen auch in deutschen Klassenzimmern.

Von Mittwoch, 09.11.2022, 12:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 09.11.2022, 19:38 Uhr Lesedauer: 9 Minuten  |  

Als bekannt wurde, dass ich mich mit dem Thema Rassismus beschäftige, fragte mich ein Kollege, ob ich schon mal Rassismus erlebt habe. Ja, habe ich. Dreimal die Woche eigentlich, also konservativ geschätzt. Aber unter Rassismus verstehen mein Kollege und ich vermutlich nicht dasselbe. Er meinte eher die Sorte Rassismus, die jeder ohne Vorbildung erkennen kann. Ich sprach von den Ereignissen, die immer noch wenige Menschen erkennen. Diese Ereignisse sind der größere Teil des Problems. Er sprach von der Spitze des Eisbergs, ich von dem Teil, der unter Wasser liegt. Dem größeren Teil des Eisbergs, dem, der schon den Bauch der Titanic aufschlitzte.

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Ein passendes Bild: Unsere Gesellschaft als neumodisches Kreuzfahrtschiff, wie es die Titanic seinerzeit war, als fortschrittlichstes, zeitgemäßestes, feierndes Symbol des Volle-Kraft-Voraus. Die Entscheider an Deck halten den Koloss für unsinkbar und dass sie selbst nicht mit den Wirkungen von Rassismus vertraut sind, verstellt ihnen den Blick auf die Gefahr, die davon ausgeht. Aber wir hier unter der Wasserlinie hören den Eisberg zuerst. Was viele übersehen: Wir sitzen alle im selben Boot, auch wenn die Welt an Deck eine andere zu sein scheint.

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Unsinkbar? An der einen oder anderen Ecke kommen schon Zweifel auf. Aber das privilegierte Sicherheitsempfinden bleibt bestimmend. In einer Fortbildung zum Thema Rechtsextremismus im Schulkontext konnte ich mich die Tage davon überzeugen. Wir waren eine landesweit zusammengewürfelte Online-Gruppe und bildeten uns über bekannte Symbole der Rechtsextremen. Welche gibt es? Wie schwer sind sie zu erkennen? Am Ende war Raum für die Frage, wie wir als Lehrkräfte mit Rechtsextremismus in unseren Klassenzimmern umgehen sollten.

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„Ein Schüler trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Wir sind die Jugend ohne Migrationshintergrund“. Wie soll man als Lehrkraft damit umgehen?“

Wir berieten über ein Fallbeispiel: Ein Schüler trägt ein T-Shirt mit der Aufschrift „Wir sind die Jugend ohne Migrationshintergrund“. Ein Erkennungszeichen der identitären Bewegung ist auf dem Oberteil angebracht. Diese extreme Gruppierung und ihre Erkennungszeichen sind in Deutschland nicht verboten, in Österreich dagegen schon. Wie soll man als Lehrkraft damit umgehen?

Die Mehrzahl hätte ein pädagogisches Gespräch mit dem Schüler geführt und die Schulleitung informiert. Viele hätten den Schüler das T-Shirt umdrehen lassen, damit er nicht mit dem Statement auf der Brust im Klassenzimmer sitzen könnte. Sie dachten dabei an das Wohlergehen der Schüler „mit Migrationshintergrund“. Das ist ein sehr schönes Ergebnis, wir sind also vorangekommen. Denn bis vor Kurzem dachte niemand bei Rassismus und Rechtsextremismus an die Zielpersonen. Auch unser Rechtsstaat sieht den Schutz der einzelnen Zielperson nicht vor, verfolgt werden nur Angriffe auf die Grundfesten des Staates.

Aber weil wir in unserer Bildungsarbeit eben immer noch an der Spitze des Eisbergs kratzen, fehlt das Wissen, das uns die Dimension aufzeigen könnte, mit der wir umgehen. Schnell kam es deshalb zu der Frage, ob man den Vorfall nicht besser anders handhaben sollte. Der Begriff Cancel Culture fiel und wurde zum Argument gegen einen Eingriff in die Situation gemacht.

„Cancel Culture ist heute ein Kampfbegriff der Rechten, der es in die gesellschaftliche Mitte geschafft hat.“

Cancel Culture ist heute ein Kampfbegriff der Rechten, der es in die gesellschaftliche Mitte geschafft hat. Er drückt die Angst davor aus, zensiert zu werden. Als Zensur wird dabei schon Kritik verstanden. Denn natürlich „darf“ man immer noch alles Mögliche sagen, das eigentlich verboten gehört. Etwa das N-Wort, das eine Menschenrechtsverletzung darstellt. Aber seit wir unter der Wasserlinie Internet haben, kann man unseren Widerspruch schlechter überhören. Widerspruch scheint eine neue Erfahrung für manche zu sein, und er stört nicht nur Rechtsaußen.

Cancel Culture wird häufig von der dominanten Gruppe als Argument verwendet, also von weißen arrivierten Mitgliedern der Gesellschaft, um sich über das neue Rederecht von Minderheiten zu beklagen. Das ist schade, denn warum soll die Freiheit weißer Menschen, Rassismus zu äußern, mehr wert sein, als die Freiheit nichtweißer Menschen, gleichberechtigt und ohne Rassismus leben zu können?

„Warum soll die Freiheit weißer Menschen, Rassismus zu äußern, mehr wert sein, als die Freiheit nichtweißer Menschen, gleichberechtigt und ohne Rassismus leben zu können?“

In der Fortbildung wurde überlegt, dem Vorwurf von „Cancel Culture“ zuvorzukommen: Sollten wir dem T-Shirt wirklich so viel Aufmerksamkeit schenken? Würden wir damit nicht das Argument der Gegner stützen, die uns Demokraten ja schon lange vorwerfen, wir verböten ihnen den Mund? Mich schauderte. Der Vorschlag weitete sich aus. Der Schüler oder die Schülerin sollte mit dem T-Shirt im Klassenraum sitzen bleiben und seine Ansichten darlegen dürfen, so überlegte man. Denn: Rechte Ansichten würden sich erfahrungsgemäß selbst widerlegen.

Angesichts des Vorschlags, das Rederecht des Schülers im rechtsradikalen Hemd zu schützen, hatte ich den Eindruck, dass sich etwaige Argumente des Schülers keinesfalls selbst widerlegen würden. Eine Lehrkraft, die das Problem so angeht, ist vermutlich auch nicht ausgerüstet, dem zu begegnen, was dann kommt. Eine rechte Kampfstrategie wäre aufgegangen.

„Mein Prüfstein bleibt immer derselbe: Prüfen wir das Ergebnis dessen, was wir tun. Wem nützt und wem schadet es?“

Hätte die Lehrperson das erkennen können? Mein Prüfstein bleibt immer derselbe: Prüfen wir das Ergebnis dessen, was wir tun. Wem nützt und wem schadet es?

Das Ergebnis der Strategie, sich nicht Cancel Culture vorwerfen lassen zu müssen, wäre bequem für den Pädagogen und einträglich für Rechtsradikale. Ein Schüler darf im Unterricht für rechtsradikale Ideen werben und sie offen zeigen. Der Pädagoge tut schlicht nichts und hofft, dass sich das Problem wie von Zauberhand in Luft auflöst.

Eine Zielperson von Rassismus und Rechtsextremismus im selben Unterricht kann dem Übergriff dagegen nicht ausweichen. Sie muss sich Ideen anhören, die darauf hinauslaufen, sie auszuschließen, ihre Lebenschancen einzuschränken oder sogar einen Angriff auf ihre körperliche Unversehrtheit und ihr Leben vorzubereiten. In ihrem Klassenzimmer wird Menschenverachtung diskutiert, als spräche man über das Wetter. Für die Zielperson ist die Schule kein sicherer Ort mehr. Diejenigen, die sie hätten schützen müssen, verhalten sich, als sei sie gar nicht vorhanden oder zumindest, als zähle sie nicht. Sie erkennen die Dimension und die Richtung des Angriffs nicht und erlauben, ja, unterstützen ihn.

„Diese Szene hat einen gravierenden Einfluss auf die Zielpersonen. Sie kann sie vor eine weitreichende Wahl stellen. In diesem Umfeld bleiben und den potenziellen Täter als tägliche Bedrohung hinnehmen oder gehen? „

Diese Szene hat einen gravierenden Einfluss auf die Zielpersonen. Sie kann sie vor eine weitreichende Wahl stellen. In diesem Umfeld bleiben und den potenziellen Täter als tägliche Bedrohung hinnehmen oder gehen? Die Überlegung findet für Zielpersonen in dem Wissen statt, dass sie keinen Schutz erhalten werden, dass sie nicht gesehen werden, dass die Dimension des Angriffs nicht erkannt werden wird, dass es keine Präventionsstrategie gibt, dass Leute wie sie in dieser Institution nicht mitgedacht werden. Sie kennen dieses Verhalten vermutlich bereits und sie wissen, dass sie auf sich allein gestellt sind. Diese Dinge passieren einem nicht einmal, sondern dreimal die Woche. Vor diesem Hintergrund treffen sie die Entscheidung: In diesem Umfeld bleiben oder den Ort und damit vielleicht ihren Bildungsweg wechseln?

Das hatte ich im Sinn, als ich mich zu Wort meldete. Ich sagte, dass man die Zielpersonen vor Augen haben müsse und dass ich den Vorschlag für sie für unzumutbar hielte. Eine weitere Lehrkraft wies mich zurecht: Man könne das Thema nicht wegen eines Schülers (mit Migrationshintergrund) unbesprochen lassen und wischte meinen Einwurf, an die Zielpersonen zu denken, damit vom Tisch.

Ich antwortete darauf nicht erneut und ärgerte mich. Ich ärgerte mich tatsächlich zwei Tage lang, bevor ich alles durchgedacht hatte. Dann ärgerte ich mich, weil ich das, was ich jetzt weiß, nicht schlagfertig hatte äußern können. Ich hielt mich für immer noch zu schlecht vorbereitet auf diese Situationen.

„Mir fiel auf, dass man beim Thema Rassismus häufig Antworten erhält, die nicht zu dem passen, was man vorgebracht hat. Und ich glaube, dass das System hat. Denn in Diskussionen über Rassismus und Rechtsradikalismus sind die Positionen nicht mit derselben Macht ausgestattet.“

Aber was die Lehrkraft geantwortet hatte, war keine Antwort darauf gewesen war, was ich gesagt hatte. Ich hatte nicht gesagt, dass man nicht über das Thema sprechen sollte. Ich hatte den Fokus auf die Zielperson gelegt. Mir fiel auf, dass man beim Thema Rassismus häufig Antworten erhält, die nicht zu dem passen, was man vorgebracht hat. Und ich glaube, dass das System hat. Denn in Diskussionen über Rassismus und Rechtsradikalismus sind die Positionen nicht mit derselben Macht ausgestattet.

Wenn ich gegen Rassismus argumentiere, bin ich sehr genau. Meine Position muss unterhalb der Wasserlinie besonders wasserdicht sein, sonst ist sie chancenlos. Wer aber auf der Gegenseite argumentiert, muss nicht genau sein. Er kann sich haarscharf neben dem Argument bewegen, er kann das Thema wechseln, er kann es verdrehen, andere Schwerpunkte setzten, kurz, jeden rhetorischen Kniff anwenden, der vom Thema wegführt. Für ihn ist es sinnvoll, Verwirrung zu stiften, statt Klarheit anzustreben. Seine Kommunikationsstrategien gewinnen, wenn das Argument des anderen nicht besprochen wird. Man argumentiert so, weil man es kann – es ist Ausdruck von Macht. Und es ist viel einfacher, als sich wirklich mit dem Thema zu befassen. Fürs nächste Mal habe ich deshalb neue Strategien im Gepäck. Ich kann sagen: Ich glaube, Sie haben mich missverstanden, mir war der folgende Punkt wichtig…

Das unbefriedigende Ergebnis der Diskussion wird mich nicht canceln. Denn die schweigende Mehrheit hat vielleicht mein Argument gehört und verstanden. Außerdem werde ich auch zukünftig nachverhandeln. Wenn meine Argumente bereit sind, sende ich sie im Nachgang per Mail. Dranbleiben lautet die Devise, Schlagfertigkeit wird überbewertet, nachverhandeln ist erlaubt.

„Und wir sollten uns anstrengen, die gesellschaftliche Debatte mitzugestalten und zu widersprechen, notfalls auch später. Denn dem Cancel-Culture-Argument nachzugeben ist Appeasementpolitik.“

Und wir sollten uns anstrengen, die gesellschaftliche Debatte mitzugestalten und zu widersprechen, notfalls auch später. Denn dem Cancel-Culture-Argument nachzugeben ist Appeasementpolitik. Das hat noch nie funktioniert und wird wieder und aus denselben Gründen nicht funktionieren. Appeasement bedeutet „Beschwichtigung, Beruhigung“, in der Hoffnung, dass Radikale dann irgendwann zufrieden sein werden und aufgeben. In der Hoffnung, dass sich die Sache irgendwie von selbst erledigt, so wie die Kollegen das vorschlugen.

Das Prinzip Hoffnung ist, was man tut, wenn man nicht weiß, was man tun kann. Hoffnung ist etwas für Hilflose, die sonst nichts mehr haben. Alle anderen sollten handeln. Glauben Sie denjenigen, die den Eisberg am Schiffsrumpf schon hören, während Sie oben noch feiern.

Meinung

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  1. Stefan Böckler sagt:

    Das Thema der Cancel-Culture ist natürlich ein sehr komplexes und kann hier nicht angemessen behandelt werden.

    Allerdings möchte ich darauf hinweisen, dass dieser Begriff keineswegs nur von der Rechten verwendet wird, sondern durchaus auch liberale und linke Autoren auf den damit bezeichneten Umgang mit abweichenden Meinungen hinweisen. Meine eigene Erfahrung mit der (Verhinderung der) Publikation solcher Meinungen in Bezug auf das Thema der Migration sprechen tatsächlich auch dafür, dass es einen solchen problematischen Umgang bei den Mainstreammedien (und auch das ist nicht per se ein Kampfbegriff der Rechten, sondern verweist auf die durchgehend einseitige Darstellung bestimmter Themen in diesen Medien) gibt.

    Wenn man den Begriff der Cancel Culture also ausschließlich als Kampfbegriff der Rechten betrachtet, verschließt man sich m. E. dem Verständnis eines durchaus vorhandenen und innerhalb der aktuellen Polarisierung der Debatten sich intensivierenden Phänomen.