Nach fünf Jahren EU-Finanzierung

Seenotleitstelle in Libyen „nicht einsatzbereit“

Seit 2017 hat die EU mindestens 57 Millionen Euro zur Migrationsabwehr in Libyen investiert. Die Regierung in Tripolis setzt die UN-Konvention zur Seenotrettung aber immer noch nicht korrekt um. Die Geldgeber aus Brüssel sorgen sich deshalb um ihren Ruf.

Von Donnerstag, 10.11.2022, 15:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 10.11.2022, 15:21 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Seit der sogenannten „Migrationskrise“ investiert die Europäische Union in die verstärkte Überwachung der libyschen Seegrenzen. 2017 wurde Italien beauftragt, ein maritimes Koordinationszentrum in der Hauptstadt Tripolis zu installieren und eine Seenotrettungszone (Search And Rescue, SAR) festzulegen, für die seitdem Libyen allein zuständig sein sollte.

Ein Jahr später hat Libyen mit italienischer Unterstützung die eigene SAR-Zone bei der Seeschifffahrts-Organisation der Vereinten Nationen angemeldet. Nun stellt sich aber heraus, dass die zugehörige Seenotleitstelle in Libyen auch nach fünf Jahren EU-Unterstützung tatsächlich gar „nicht einsatzbereit“ ist. Das teilte der Hohe Vertreter und Vizepräsident der EU-Kommission, Joseph Borrell, in der Antwort auf eine parlamentarische Anfrage mit. Darin hatte sich die Europaabgeordnete Özlem Demirel nach der EU-finanzierten Technik in dem Zentrum erkundigt.

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SOLAS-Konvention nicht erfüllt

Eine solche Maritime Seenotleitstelle (MRCC) ist notwendig, um das 1974 von vielen Meeresanrainern unterzeichnete, weltweite Übereinkommen zum Schutz des menschlichen Lebens auf See (SOLAS) zu erfüllen. Auch Libyen hatte die Konvention unterzeichnet, die daraus resultierenden Verpflichtungen aber jahrelang nicht umgesetzt. Einsätze in der libyschen Seenotrettungszone wurden stattdessen von MRCC’s in Italien oder Malta koordiniert und die Menschen dann in diesen beiden Ländern ausgeschifft.

Ab 2018 haben europäische Küstenwachen, aber auch Frontex und die EU-Militärmission IRINI allerdings immer öfter die libysche Küstenwache informiert, damit diese die Geflüchteten auf dem Weg nach Europa stoppt und zurückbringt. Völkerrechtlich schien dieses Verfahren Bestand zu haben; die SOLAS-Konvention schreibt vor, dass das für eine Rettungszone zuständige MRCC über einen Seenotfall informiert werden muss. Dahinter verbirgt sich aber eine Hintertür, indem die EU-Schiffe die Geflüchteten nicht selbst in ein Land bringen, wo Verfolgung droht, sondern libysche Behörden mit „Pullbacks“ beauftragen.

Wenn jedoch kein MRCC in Tripolis oder anderswo existiert, erfüllt Libyen auch die SOLAS-Anforderungen der Vereinten Nationen für die Wahrnehmung einer eigenen SAR-Zone nicht. Private Rettungsorganisationen weisen darauf seit Jahren hin. Demnach ist die libysche Küstenwache oft nicht erreichbar oder die Besatzung spricht kein Englisch. Beides gehört jedoch gemäß den Vereinten Nationen zu den Grundsätzen einer eine SAR-Zone.

Drei konkurrierende Behörden zur Migrationsabwehr

Die Bedeutung der Antwort von Borrell ist deshalb nicht zu unterschätzen. Denn erstmals gibt ein hoher EU-Vertreter zu, dass die Ziele der Unterstützung aus Brüssel nicht erreicht wurden. In früheren Anfragen konnten sowohl die Kommission als auch der Rat nicht mitteilen, wo sich die Anlage zur Seenotrettung überhaupt befinden soll.

Für die Einrichtung des MRCC hat die EU im Projekt „Unterstützung des integrierten Grenzmanagements und der Migrationssteuerung in Libyen — SIBMMIL“ zunächst 42 Millionen Euro aus dem Nothilfe-Treuhandfonds für Afrika gezahlt, weitere 15 Millionen Euro folgten für eine zweite Phase.

Konkrete Angaben auch zum Verbleib der Fördermittel will das italienische Innenministerium aber geheim halten. Die Journalistin Sara Creta klagt deshalb gegen die Regierung in Rom.

Wo verblieb die angeschaffte Ausrüstung?

Der Antwort zufolge existiert in Libyen also immer noch kein koordiniertes Verfahren für die Seenotrettung. Tatsächlich gibt es neben der aus Milizen bestehenden, militärischen Küstenwache weitere Einheiten, die sich zur Rückholung von Geflüchteten für zuständig erklären.

So fährt etwa die von Frontex unterstützte Seepolizei (General Administration for Coastal Security; GACS) immer mehr Einsätze. Letztes Jahr trat außerdem die für ihre Brutalität berüchtigte „Stability Support Authority“ (SSA) auf den Plan.

Es ist unklar, bei welcher der Milizen die angeschaffte Ausrüstung für ein MRCC verblieben ist. Vermutlich streiten sich die Küstenwache, die Seepolizei und die SSA auch um die Zuständigkeiten. Der Migrationsabwehr im Dienste der EU tut das aber keinen Abbruch. 2021 wurden mindestens 32.425 Menschen von libyschen Einheiten abgefangen und in menschenunwürdige Lager gepfercht, unter ihnen 1.500 Minderjährige. Gegenüber 2020 hat sich diese Zahl beinahe verdreifacht.

Neuer Anlauf mit MRCC in Containern

Nun unternimmt die EU einen neuen Anlauf für eine Seenotleitstelle in Libyen. Im Dezember hat die italienische Marine dazu zehn Container mit neuer Technik verschifft. Der Zeitung Altreconomia zufolge sollen diese mobilen Anlagen entlang der Küste stationiert und an Systeme der libyschen Marine angeschlossen werden. Die Ausstattung der Überwachungs- und Kommunikationstechnik übernahm die Firma ELMAN, die Radaranlagen stammen von der Firma GEM elettronica, beide aus Italien. Zur Ausrüstung gehören außerdem Systeme zum Empfang von Notfall- und Warnmeldungen von Inmarsat aus Großbritannien sowie Funkgeräte von Rohde & Schwarz aus Deutschland.

Die EU-Überwachungstechnik wird noch mehr Menschen den brutalen Methoden der libyschen Küstenwache und den Lagern der Milizen ausliefern. Die Berichte darüber werden auch für die EU zum Problem. In einem Dokument zu dem SIBMMIL-Projekt schreibt etwa die Kommission, dass die Behandlung von Geflüchteten bei Such- und Rettungsaktionen verbesserungswürdig sei, ansonsten könne „das Narrativ und der Ruf der EU weiter beschädigt werden“.

Funktioniert hat dies bislang nicht: Kürzlich hat selbst der Grundrechtsbeauftragte bei Frontex den libyschen Behörden die Misshandlung von Menschen, die aus Seenot gerettet werden sollten, attestiert. Die dortige Küstenwache habe demnach sogar mehrfach auf die Geflüchteten auf See geschossen. Auch dies ist durch private Seenotretter:innen mehrfach belegt. Zuletzt hatten Grenztruppen aus Libyen sogar ein Flugzeug der Organisation Sea-Watch mit dem Abschuss durch eine Rakete bedroht. (mm)

Leitartikel Panorama

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