NSU 2.0-Prozess vor Abschluss
Einzeltätertheorie überzeugt Opfer nicht
Die Drohschreiben mit der Unterschrift „NSU 2.0“ verbreiteten zweieinhalb Jahre lang unter den Adressaten Angst und Schrecken. Nach neun Monaten Verhandlung vor Gericht wird am Donnerstag das Urteil gegen den Angeklagten erwartet.
Von Jens Bayer-Gimm Sonntag, 13.11.2022, 19:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 13.11.2022, 10:07 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Der Prozess um die „NSU 2.0“-Drohschreiben vor dem Oberlandesgericht Frankfurt am Main steht vor dem Abschluss: Am Donnerstag wird das Urteil erwartet. Die Staatsanwaltschaft ist überzeugt, dass der arbeitslose Berliner Alexander M. als Alleintäter infrage kommt. Er soll mehr als 80 Drohschreiben zwischen August 2018 und März 2021 per E-Mail, Fax oder SMS verschickt haben. Diese waren gespickt mit wüsten Beschimpfungen und Todesdrohungen. Adressaten waren vor allem Frauen des öffentlichen Lebens, Rechtsanwältinnen, Politikerinnen, Journalistinnen, Staatsanwältinnen.
Die Schreiben waren nach den Angaben von Oberstaatsanwalt Sinan Akdoğan alle mit „Heil Hitler“ unterschrieben. Der Verfasser nannte sich häufig „SS-Obersturmbannführer“, manchmal auch „Uwe Böhnhardt“ in Anspielung auf das verstorbene Mitglied der rechtsextremen Mordgruppe NSU, die von 2000 bis 2007 neun Migranten und eine Polizistin ermordete, oder er bezeichnete sich als Polizisten. Das erste nachträglich bekanntgewordene Drohschreiben vom August 2018 und eine ganze Reihe weiterer ähnlicher Mails und Faxe richtete sich gegen die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız.
Persönliche Daten aus Polizeicomputern
„Ich reiß dir den Kopf ab“, hieß es darin neben ausländerfeindlichen Beleidigungen. Die Angeschriebene solle mit ihrer Familie schnell Deutschland verlassen, „am Tag x helfen euch keine Bullen. Blut wird fließen knüppelhageldick“. Weitere Adressaten waren unter anderen die jetzige Bundesvorsitzende der Linken, Janine Wissler, die Panorama-Moderatorin Anja Reschke, die ZDF-Moderatorin Maybrit Illner und der ZDF-Satiriker Jan Böhmermann, die Frankfurter Oberstaatsanwältin Nadja Niesen oder die Berliner Kabarettistin Idil Baydar.
Weitere Brisanz erhielten die Fälle, als sich herausstellte, dass vor einigen Drohschreiben persönliche Daten der Betroffenen ohne Anlass auf Polizeicomputern in Frankfurt, Wiesbaden, Hamburg und Berlin abgerufen worden waren. Dies lenkte den Verdacht auf rechtsextremistische Täter in Polizeikreisen. Infolge der Ermittlungen flogen in Hessen mehrere Chatgruppen mit rechtsextremen und rassistischen Äußerungen auf, an denen Polizisten teilgenommen hatten. Mehrere Beamte wurden suspendiert.
Mutmaßlichen Täter nach 2,5 Jahre gefasst
Das Hessische Landeskriminalamt hatte eine Arbeitsgruppe mit zeitweilig bis zu 60 Beamten zur Aufklärung der Drohschreiben eingerichtet. Die Ermittler tappten mehr als zweieinhalb Jahre lang im Dunkeln, dann griffen sie am 3. Mai 2021 zu: Alexander M. wurde in seiner Wohnung in Berlin festgenommen. Bei der Durchsuchung wurden neben einer Vielzahl von elektronischen und schriftlichen Unterlagen auch Datenträger mit kinder- und jugendpornografischem Material sowie zwei Würgehölzer sichergestellt. Dem Angeklagten waren die Ermittler durch Sprachanalysen in Internetforen auf die Spur gekommen.
Die Daten über die Adressaten der Drohschreiben habe M. erlangt, indem er vorgegeben habe, Polizist oder Bediensteter einer Behörde zu sein, erklärte die Staatsanwaltschaft. Er sei wegen Körperverletzung vorbestraft und schon einmal rechtskräftig verurteilt worden, weil er sich fälschlich als Kriminalbeamter ausgegeben habe.
Nebenkläger kritisieren Einzeltäter-Theorie
Die Anklage fordert für M. eine Haftstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten. Er soll unter anderem wegen Beleidigung und versuchter Nötigung sowie Störung des öffentlichen Friedens und Volksverhetzung verurteilt werden. Der Angeklagte wies alle Vorwürfe von sich: „Ich bestreite jede Tatbeteiligung“, sagte er. Er sei lediglich Mitglied einer rechten Chatgruppe im Darknet gewesen, habe aber keine Straftaten begangen. Er werde zum Sündenbock gemacht, um von den Tätern abzulenken.
Die Anwältinnen der Adressaten, die als Nebenklägerinnen auftraten, kritisierten die Festlegung der Staatsanwaltschaft auf einen Einzeltäter. Die umfangreichen Datenabfragen auf Polizeirevieren seien nicht hinreichend ermittelt worden. Sie forderten weitere Aufklärung. (epd/mig) Leitartikel Panorama
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