David gegen Goliath?
Grassroot-Organisationen protestieren gegen die UN
Die UN mit Sitz im Westen sind fast unantastbar für Proteste von Betroffenen im Süden. Dennoch gibt es Proteste: transnational, zivilgesellschaftlich, wirkmächtig und stark.
Von Sarah Spasiano Mittwoch, 07.12.2022, 15:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 06.12.2022, 13:12 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Die Grassroot-Bewegung „Refugees in Libya“, eine selbstorganisierte Protestbewegung in Tripolis, verlangt, dass die UN ihr Mandat erfüllt und ihre Arbeit tut. Die Bewegung hat gemeinsam mit nordafrikanischen und europäischen Unterstützer:innen Proteste gegen das Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen (UNHCR) angekündigt, dessen Hauptsitz sich ebenfalls in Genf befindet. Mit der Kampagne „UNFAIR – The UN Refusal Agency“ sollen die Stimmen der Demonstrierenden von Tripolis verstärkt werden und die Forderungen direkt zum Hauptsitz der Institution getragen werden.
„Grenzschutzmaßnahmen bekommen durch die Beteiligung des UNHCR einen humanitären Anstrich.“
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Die Aktivist:innen werfen dem UNHCR unter anderem vor, Interessen von (europäischen) Staaten zu vertreten und darüber die Sicherheit von Schutzsuchenden zu vernachlässigen. „Anstatt die Rechte und Interessen von Flüchtenden durchzusetzen, wurde die UN-Agentur zu einer Autorität, die die Grenzen Europas und anderer Länder des Globalen Nordens schützt“, heißt es auf der Webseite der „UNFAIR – The UN Refusal Agency“-Kampagne. Grenzschutzmaßnahmen bekommen durch die Beteiligung des UNHCR einen humanitären Anstrich, beklagen die Aktivist:innen.
Insbesondere der UNHCR Libyen werde zum Komplizen bei Menschenrechtsverletzungen, denen Schutzsuchende dort täglich ausgesetzt sind. Dies spiegelt sich auch in den Zeugenberichten Betroffener von ihren Erfahrungen in Libyen wider. So spricht dort beispielsweise David, Sprecher der Refugees in Libya, über die „Albträume aus Folter, Ausbeutung und verschiedenen Arten der Gewalt“, die er vor Ort durchleben musste. Hilfe seitens des UNHCR Libyen hat er nicht erfahren. Stattdessen zog sich seine Anerkennung als Flüchtling durch den UNHCR Libyen über mehrere Jahre – eine Zeit, in der er weiterhin ohne Schutz durch das Hilfswerk die Gewalt und prekäre Situation in Libyen überleben musste.
„Die Proteste sind Zeichen einer wirkmächtigen Solidarisierung und starken Protestkultur, die sich traut, laut zu sein, und nicht davor zurückschreckt, Ungerechtigkeiten zu beklagen und Rechte einzufordern. „
Die Aktivist:innen der Kampagne haben einen zweitägigen Protest vor dem Büro des UNHCR in Genf angekündigt. Für den 9. Dezember ist eine Pressekonferenz, sowie eine Sitzblockade angekündigt; am Samstag, dem 10. Dezember, wird anlässlich des Internationalen Tages der Menschenrechte eine große Demonstration stattfinden. Dabei sollen die Stimmen derjenigen zu hören sein, zu deren Schutz der UNHCR laut seinem Mandat verpflichtet ist. An dieses Mandat, sagen die Aktivist:innen, müsse das Flüchtlingshilfswerk erinnert werden. Es heißt: „UN, tut eure Arbeit“.
Welchen Einfluss wird diese Protestaktion auf das Handeln der UN und des UNHCR haben? Was bedeutet es, wenn sich Grassroot-Organisationen und selbstorganisierte Proteste vermehrt direkt und laut an die Vereinten Nationen wenden? Inwieweit ist das überhaupt möglich? Die UN sind ein Zusammenschluss von Nationalstaaten, die direkte Beteiligung von Bürger:innen ist also erstmal nicht vorgesehen.
Greifen Grassroot-Organisation mit solchen Protesten sprichwörtlich nach dem letzten Grashalm? Ist es ein Zeichen der Verzweiflung und dafür, dass nationale Regierungen in vielen Regionen der Welt repressiver werden, im besten Fall Proteste ignorieren und sie im schlechtesten Fall brutal unterdrücken?
„Die UN sind fast unantastbar für Proteste von Betroffenen. Dass diese solidarischen Protestaktionen trotzdem stattfinden, ist ein Zeichen von transnationaler zivilgesellschaftlicher Solidarität.“
Ganz im Gegenteil: Die Proteste sind Zeichen einer wirkmächtigen Solidarisierung und starken Protestkultur, die sich traut, laut zu sein, und nicht davor zurückschreckt, Ungerechtigkeiten zu beklagen und Rechte einzufordern. Diese Proteste können Vorboten großer Transformationen in den lokalen Kämpfen sein und sägen gemeinsam an den Säulen der menschenverachtenden europäischen Externalisierungspolitik.
Konkreter gesprochen: Den am stärksten Marginalisierten ist es häufig nicht möglich, zum Beispiel nach Genf zu kommen und ihre Forderungen dort hörbar zu machen. Refugees in Libya ist es durch Visabeschränkungen, zurückgehaltene Papiere, eingeschränkte Reisefreiheit und finanzielle Mittel, unmöglich, dorthin zu reisen. Die UN sind fast unantastbar für Proteste von Betroffenen.
Dass diese solidarischen Protestaktionen trotzdem stattfinden, ist ein Zeichen von transnationaler zivilgesellschaftlicher Solidarität. Denn Menschen mit mächtigen Pässen nutzen ihre Privilegien, um die Stimmen der Ausgeschlossenen dorthin zu tragen, wo sie gehört werden müssen. Das solidarische Verknüpfen verschiedener Proteste an verschiedenen Orten, so die Hoffnung, weckt die UN in ihrem Elfenbeinturm und kann nicht so leicht von repressiven Regierungen unterdrückt werden.
Die Protestierenden in Genf versuchen, die UN wachzurütteln und für ihre Kämpfe zu gewinnen. Darin steckt eine hohe Erwartung an die Institution. Was werden die nächsten Schritte der UN und des Flüchtlingshilfswerks sein? Welche Bedeutung hätte ein die Forderungen der Demonstrant:innen unterstützendes Statement der UN? Welche konkreten Maßnahmen können dem folgen?
Die nächsten Wochen werden zeigen, ob die Grassroot-Organisationen zurecht ihre Hoffnungen in die UN setzen. Das Potenzial für tiefgreifende Veränderungen ist da. Wenn sich David und Goliath verbünden – dann können die lokalen Kämpfe um Recht, Gerechtigkeit und Freiheit vielleicht gewonnen werden. Meinung
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