Ukraine
Ein Jahr nach Kriegsbeginn wachsen auch die Sorgen um die Heimat
Mit professioneller Beratung, Begegnung und Lernen hilft „Fluchtpunkt Martini“ in Minden ukrainischen Geflüchteten. Ein Jahr nach Kriegsbeginn wächst deren Sorge um Angehörige daheim und die Angst vor neuen Angriffen auf die Heimat.
Von Thomas Krüger Dienstag, 21.02.2023, 17:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 21.02.2023, 13:09 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
„Wenn alles gut wird, gehe ich zurück“, sagt Olga Slotvytska aus der Ukraine. Doch im Moment kommt das nicht infrage: Die Angst vor dem Krieg überwiegt das Heimweh der 52-Jährigen, die vor einem Jahr aus der Stadt Czernihiw fliehen musste. Im ostwestfälischen Minden hat sie zusammen mit zwei Töchtern und dem Enkelkind im September eine Wohnung bekommen und will so bald wie möglich eine Arbeit aufnehmen.
Dreimal die Woche besucht Olga den „Fluchtpunkt Martini“, die zentrale Anlaufstelle des Evangelischen Kirchenkreises Minden für Geflüchtete. Hier sucht sie Hilfe im Umgang mit Behörden und Jobcenter, lernt Deutsch und trifft Landsleute. In das Zentrum kommen auch Menschen aus Syrien oder dem Irak, doch stehe die Arbeit jetzt natürlich stark im Zeichen der ukrainischen Flüchtlinge, sagt „Fluchtpunkt“-Leiter Oliver Roth.
Es war ein Glücksfall, dass das Martinihaus – ein ehemaliges Gemeindezentrum im Herzen der Stadt – im Frühjahr 2022 gerade leer stand. Im April zogen Roth und sein Team vom kirchlichen Flüchtlingsreferat ein, seitdem sind die Türen von Montag bis Freitag täglich geöffnet: „Wer Beratung sucht, kann einfach kommen – ohne Termin“, sagt der Sozialarbeiter.
Sprachlehrer aus der Zeit der Fluchtbewegung aus Syrien aktiviert
Das Flüchtlingsreferat reaktivierte ehrenamtliche Sprachlehrerinnen und -lehrer aus der Zeit der großen Fluchtbewegung aus Syrien: inzwischen laufen sechs Deutschkurse jede Woche. Auch das städtische Projekt „Migranten helfen Migranten“ fand im „Fluchtpunkt Martini“ ein Zuhause: Zugewanderte, die schon länger in Minden leben, helfen den Neulingen beim Ausfüllen von Anträgen und fungieren als Lotsen durch den Behördendschungel.
Täglich hält Kateryna Kalinichenko ihre Sprechstunden im Martinihaus. Die 25-Jährige hat in Kiew ein Master-Studium in Psychologie absolviert. Wenige Tage nach Kriegsbeginn floh sie aus Saporischja und gelangte über Polen und Berlin nach Minden. Eines Tages erfuhr sie, dass im „Fluchtpunkt“ psychologische Hilfe für Ukrainer gebraucht wird. Zunächst arbeitete sie an zwei Tagen pro Woche ehrenamtlich. Leiter Roth sorgte dafür, dass ihre Qualifikation in Deutschland anerkannt wird – so kann der Kirchenkreis sie auf einer halben Stelle beschäftigen.
Schlaf- und Konzentrationsschwierigkeiten
Jetzt hat Kalinichenko täglich drei bis vier Klienten und führt eine kleine Warteliste. „Vor allem Frauen kommen zu mir, zum Teil mit ihren Kindern“, berichtet sie. Anfangs hätten die Kriegserlebnisse im Mittelpunkt gestanden, mittlerweile gehe es mehr um das Zurechtfinden im fremden Land – in Ämtern, Schulen und dem Gesundheitssystem. „Alle Ukrainer hier haben sehr viel Stress“, weiß die Psychologin. Folgen seien zum Beispiel Schlaf- und Konzentrationsschwierigkeiten.
Gerne würde Kalinichenko in Deutschland bleiben und als Psychologin arbeiten, sagt sie. Zugleich sorgt sie sich um Mutter und Bruder in der Ukraine: „Es geht ihnen nicht gut, sie haben schon etliche Angriffe erlebt.“ Nervös blickt die junge Frau auf ihr Handy: Heute muss ihr Bruder zum ukrainischen Militär einrücken.
Stromausfälle und Versorgungsprobleme
Auch Olga Slotvytska telefoniert jeden Tag mit den Verwandten in der Heimat. Ihre alte Mutter könne nicht raus, sie habe eine Behinderung. Sie wird von Olgas Schwester betreut. Derzeit machten den Angehörigen vor allem Stromausfälle und Versorgungsprobleme zu schaffen, sagt Slotvytska. Sie befürchtet, dass sich die Lage zum ersten Jahrestag des Kriegsbeginns durch neue Angriffe verschlimmern könnte.
Pro Tag kommen zwischen 30 und 100 Menschen zu den verschiedenen Angeboten ins Martinihaus, berichtet Oliver Roth. An Ausflügen nach Berlin, Hannover oder ins Ruhrgebiet hätten bis zu 200 Frauen, Männer und Kinder teilgenommen. Das Projekt stößt offenbar auch bundesweit auf Interesse. Er erhalte Anrufe von Flüchtlingsräten aus anderen Bundesländern, die sich nach dem niedrigschwelligen Konzept erkundigen, berichtet Roth. (epd/mig) Aktuell Panorama
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