Das ist keine Jugendhilfe
Zu wenig Plätze für immer mehr unbegleitete minderjährige Geflüchtete
Die Zahl jugendlicher Flüchtlinge, die ohne Eltern nach Deutschland kommen, steigt wieder. Sie treffen auf ein stark ausgedünntes Jugendhilfe-System: zu wenig Plätze, zu wenig Betreuungskräfte. Experten fordern nachhaltige Strukturen.
Von Martina Schwager Montag, 13.03.2023, 20:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 13.03.2023, 12:48 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Mohammed hat das Frühstück verpasst und gleich einen Arzttermin. Mechthild Broxtermann gibt ihm wenigstens einen Apfel. „Die Jungs verschlafen meist den Vormittag“, sagt die Leiterin der Inobhutnahmestelle für unbegleitete minderjährige Ausländer beim Caritasdienst skm in Osnabrück. „Aber was sollen sie auch tun?“, ergänzt sie. „Zur Schule können sie nicht. Die Sprachlern- und Willkommensklassen sind voll.“ Zudem hätten viele ihrer Schützlinge Schlafstörungen.
Der 16-jährige Mohammed stammt wie die derzeit meisten jugendlichen Flüchtlinge aus Syrien. Die nächstgrößeren Gruppen der UMA, wie unbegleitete minderjährige Asylbewerber abgekürzt im Behördenjargon heißen, sind Afghanen und Kurden aus der Türkei. Die Zahlen sind laut Bundessozialministerium nach dem Höhepunkt 2015 mit 66.000 kontinuierlich zurückgegangen. 2021 kamen nur 18.000. Seitdem steigen die Zahlen wieder, auf bislang 28.000 im vergangenen Jahr. Weit überwiegend kommen Jungen.
Ein stark zurückgefahrenes System
Sie treffen allerdings auf ein stark zurückgefahrenes System. Die Jugendlichen müssen laut Gesetz von Jugendämtern in Obhut genommen und in betreuten Wohneinrichtungen der Jugendhilfe untergebracht werden. Die Inobhutnahme übernehmen in der Regel freie Träger für die Kommunen, wie etwa die Caritas für Stadt und Landkreis Osnabrück. Das Jugendamt stellt jedem einen Vormund. Als immer weniger Jugendliche kamen, wurden viele Einrichtungen geschlossen.
Weil auch Plätze in den Wohneinrichtungen für die dauerhafte Unterbringung rar sind, bleiben einige Bewohner länger als vorgesehen in der Inobhutnahmestelle. „Einer lebt jetzt schon ein halbes Jahr statt weniger Wochen bei uns“, sagt Broxtermann.
Eingestampfte Strukturen
Einmal eingestampfte Strukturen ließen sich nicht einfach wieder aufbauen, kritisieren Nichtregierungsorganisationen wie der Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (bumf) und das Kinderhilfswerk terre des hommes. Grund sei vor allem der Mangel an Betreuungsfachkräften, sagt Helen Sundermeyer vom bumf.
„Eine angemessene, das Kindeswohl wahrende Aufnahme, Versorgung, Betreuung und Begleitung von unbegleiteten minderjährigen Flüchtlingen ist derzeit an vielen Orten Deutschlands nicht mehr gewährleistet“, schreiben die Organisationen in einer Stellungnahme gemeinsam mit der Internationalen Gesellschaft für erzieherische Hilfen. Viele Kommunen seien mit der Versorgung und Unterbringung der jungen Geflüchteten überfordert, senkten ihre Standards ab.
„Das hat mit Jugendhilfe nicht viel zu tun“
In großen Städten würden junge Flüchtlinge zeitweise in Turnhallen oder Zelten untergebracht. Nachts sei oft nur Security-Personal für sie zuständig. „Das hat mit Jugendhilfe nicht viel zu tun“, klagt Sundermeyer. Sie wirft den Behörden sogar vor, die jungen Menschen im Zweifel für volljährig zu erklären und so von der Jugendhilfe fernzuhalten.
In Osnabrück konnte der skm die Schließung der Inobhutnahme in Verhandlungen mit der Stadt verhindern. Sechs Plätze blieben erhalten. Kurz vor Weihnachten waren die mit bis zu zwölf Jungen belegt. Auch ein Ausweichquartier war überfüllt. Ein weiterer Standort hätte im Sommer eröffnet werden können. Doch es fehlte an Personal. Erst seit Dezember sorgt eine weitere Gruppe mit vier Plätzen für Entlastung. Doppelzimmer sind dennoch inzwischen Standard. Die Jungen störe das nicht, sagt Mechthild Broxtermann: „Die meisten sind sehr anspruchslos.“
Appell an die Politik
Oft hätten sie Gewalt, Folter und Misshandlungen erfahren. In den ersten Tagen zögen sie sich oft ganz auf die Zimmer zurück. Später seien sie froh über Abwechslung. Doch auch Freizeitangebote Ehrenamtlicher seien deutlich zurückgegangen. „Unsere Jungen sind einfach nicht mehr so im Fokus“, bedauert Broxtermann. Sozialarbeiter hätten zu viel mit Organisation, Dokumentation und Arztbesuchen der Jugendlichen zu tun. Die Stelle für den Freiwilligendienst ist derzeit nicht besetzt: „Keine Bewerbung“, sagt Broxtermann und zieht Augenbrauen und Schultern hoch.
Um die Missstände zu beseitigen, haben der Bundesfachverband und terre des hommes einen Forderungskatalog an die Politik gerichtet. Zentrale Punkte: eine Ausbildungsoffensive für Betreuungskräfte. Die Kommunen sollten Einrichtungen nicht schließen, wenn Einreisezahlen sinken. Die Träger sollten eine betriebswirtschaftliche Planungssicherheit erhalten, wenn sie Angebote vorhielten.
„Kreative und flexible Lösungen“ gefragt
Dass die Kommunen nicht dauerhaft leer stehende Einrichtungen und einen Überhang an Fachkräften finanzieren könnten, sei verständlich, sagt Sundermeyer. Aber sie sollten gemeinsam mit den Ländern, die sich wie der Bund mit 16 Prozent an der Finanzierung beteiligen, „kreative und flexible Lösungen“ vor allem für die stark frequentierten Regionen erarbeiten. Der Bund müsse das starre Verteilverfahren für die Jugendlichen verbessern.
Bei der Osnabrücker skm-Inobhutnahmestelle beginnt an diesem Tag eine neue Mitarbeiterin ihren ersten Arbeitstag. „Du musst Mohammed zum Arzt begleiten, zum Röntgen der Lunge“, sagt Broxtermann und drückt ihr die Bustickets in die Hand. Zwei, drei weitere Hinweise müssen genügen. Die junge Frau lächelt ihre Unsicherheit weg und wirft sich die Jacke wieder über die Schulter. Mohammed hat inzwischen seinen Apfel verspeist. Gemeinsam machen die beiden sich auf den Weg. (epd/mig) Leitartikel Panorama
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