Bangladesch
Vor zehn Jahren wurde „Rana Plaza“ zum Symbol für Arbeiterinnen-Leid
Rana Plaza - der Name des eingestürzten Fabrikkomplexes steht sinnbildlich für die Ausbeutung von Textilarbeiterinnen. Die Katastrophe mit mehr als 1000 Toten rüttelte auf. Es gab wichtige Fortschritte. Doch die Löhne der Arbeiterinnen sind weiter niedrig.
Von Anne-Sophie Galli und Nazrul Islam Montag, 24.04.2023, 15:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 24.04.2023, 12:39 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Als der achtgeschossige Textilfabrik-Komplex Rana Plaza in weniger als 90 Sekunden zusammenkracht, überlebt Arbeiterin Nilufa Begum. Es sieht aus, als habe eine Bombe eingeschlagen an diesem 24. April 2013. Neben Begum überleben etwa 2500 andere Arbeiterinnen, doch mehr als 1000 sterben in der Produktionsstätte unweit von Bangladeschs Hauptstadt Dhaka. Die Bilder der Katastrophe gehen um die Welt. Sie werden zum Symbol der erbärmlichen Arbeitsbedingungen von Millionen Textilarbeiterinnen, die Kleider für die westliche Welt herstellen. Nie wieder – versprechen damals viele Modeunternehmen. Doch was hat sich seither getan in dem Land, das nach China am meisten Kleidung produziert?
Für Arbeiterin Nilufa Begum ist nichts mehr wie vorher. Damals habe sie gut neun Stunden unter den Trümmern gelegen. Heute leide sie unter Bluthochdruck, einem Nierenleiden, einem Tumor in der Brust und einer Verstümmelung ihres rechten Beins, berichtet die 42-Jährige. „Ich habe elf Monate in Krankenhäusern verbracht, und trotzdem kann ich nicht mehr laufen.“
1.845 Euro Entschädigung für Opfer
Von Modefirmen habe sie zwar eine Entschädigung in Höhe von 215.000 Taka (rund 1.847 Euro) erhalten, sagt sie, aber das reiche für nichts. „Meine medizinische Behandlung hat mich schon viel mehr gekostet, und ich kann nicht mehr für meine Familie Geld verdienen.“ Da ihr Mann und ihre Mutter inzwischen gestorben seien, habe ihr 15-jähriger Sohn die Schule abbrechen müssen, er arbeite jetzt in einer Auto-Garage.
Mehr als 30 Modemarken wurden nach dem Einsturz mit dem Fabrikkomplex Rana Plaza in Verbindung gebracht, darunter auch deutsche. Die Mehrheit dieser Firmen habe Geld in einen Fonds für Entschädigungszahlungen an Arbeiterinnen und ihre Angehörigen in Höhe von insgesamt 30 Millionen US-Dollar gezahlt, berichtet Amirul Haque Amin, der Präsident der Gewerkschaft National Garments Workers Federation.
Zu den zwölf Firmen, die damals nicht in den Fonds gezahlt haben, zählen die Adler Modemärkte. Diese hätten damals stattdessen direkt an ein Heim für Schwangere und Kinder gespendet, sagt ein Sprecher der Zeitfracht-Gruppe, die die Adler Modemärkte inzwischen übernommen hat.
Rückfall in frühere Zeiten?
Außerdem: Nach dem Fabrikkomplex-Einsturz unterschrieben rund 200 Modeunternehmen ein Abkommen zum Brand- und Gebäudeschutz, den sogenannten „Bangladesh Accord“. Daraufhin besuchten Inspekteure Hunderte Fabriken, stießen Verbesserungen an. Dies habe die Sicherheit der Arbeiterinnen etwa bei Bränden verbessert, sagt Gisela Burckhardt, Vorstandsvorsitzende der Frauenrechtsorganisation Femnet.
Der Accord habe zu weniger Toten bei Unfällen in Fabriken geführt, sagt Forscher Tamim Ahmed von der Denkfabrik Centre for Policy Dialogue in Dhaka. Doch seit die Überwachung des Accords vor drei Jahren von einer einheimischen Institution, dem RMG Sustainability Council, übernommen worden sei, habe es zuletzt wieder eine gewisse Zunahme gegeben: So seien im Jahr 2017 15 Arbeiterinnen bei Arbeitsunfällen gestorben, im Jahr 2020 nur eine Person und im vergangenen Jahr wieder 13, heißt es in einer Analyse, bei der Ahmed Co-Autor ist. Der RMG Sustainability Council führt jedoch weiter regelmäßige Fabrikinspektionen und Kontrollen durch.
Eine Sprecherin vom Modeverband GermanFashion, Tanja Croonen, betont, dass jetzt auch das Lieferkettensorgfaltspflichtengesetz deutsche Unternehmen gesetzlich verpflichte, ihrer Verantwortung gegenüber Mensch und Umwelt in ihrer Lieferkette gerecht zu werden. Diese Anforderungen würden mit Hilfe von Audits, Kontrollen, Zertifikaten, Zusammenarbeit mit Hilfsorganisationen, Nachhaltigkeitsmanagern und Vor-Ort-Besuchen in den Unternehmen durchgesetzt.
Modefirmen zahlen zu niedrige Preise – oder gar nicht
Fabrikbesitzer vor Ort beklagen, dass Modefirmen weiter zu niedrige Preise zahlten, was sich negativ auf die Lage der Arbeiterinnen auswirke. „Dann müssen wir irgendwelche Kompromisse eingehen, um die Fabrik zu betreiben“, sagt etwa Badrul Alam von der Firma AB Mart Fashionwear. Denn auch die inzwischen geforderten besseren Lüftungs- und Kühlsysteme sowie regelmäßige Feuerwehrübungen kosteten Geld.
Forscher der Universität Aberdeen ermittelten zudem bei einer Befragung von 1.000 Textilfabriken in dem Land, dass Modefirmen während der Pandemie oft besonders niedrige Preise oder zu spät gezahlt hätten, und dass Fabriken teils auf Rohmaterialkosten sitzen geblieben seien.
Zuletzt, so sieht es Gisela Burckhardt von der Frauenrechtsorganisation Femnet, hätten sich die Arbeitsbedingungen für die Frauen eher verschlechtert. „Der Arbeitsdruck hat enorm zugenommen – sie müssen in weniger Zeit mehr produzieren“, sagt sie. „Während der Pandemie wurden in vielen Fabriken mehr Frauen entlassen, als wieder eingestellt wurden – und gleichzeitig haben viele Fabriken jetzt mehr Aufträge als davor.“
69 Euro Mindestlohn
Gewerkschafter Amin sagt, dass Modefirmen zwar gerne über die Einhaltung von Standards sprächen, die höheren Kosten dafür aber nicht zahlen wollten. „Fünf oder zehn Prozent mehr pro Produkt würde die ja nicht arm machen.“
Seit 2018 liegt der Mindestlohn in Bangladesch bei 8000 Taka (69 Euro) pro Monat. Dies sei es, was viele der mehr als vier Millionen mehrheitlich weiblichen Arbeiterinnen erhielten. Amin und andere Gewerkschafter fordern aber 23.000 Taka (198 Euro) – gerade auch angesichts der derzeit hohen Inflation im Zusammenhang mit dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine. Wegen der tiefen Löhne müssten sich viele Arbeiterinnen verschulden, um über die Runden zu kommen, sagt auch Gisela Burckhardt.
Man erwäge Lohnerhöhungen, diese würden aber auch die Produktionskosten erhöhen, heißt es vom Präsidenten der Vereinigung von Textilproduzenten und -exporteuren Bangladeschs, Faruque Hassan. Dabei wolle das Land seine Textilexporte weiter erhöhen, die eine wichtige Einnahmenquelle seien. Seit dem Rana-Plaza-Einsturz hat sich das Textilexportvolumen bereits verdoppelt – auf zuletzt mehr als 42 Milliarden Dollar im Jahr. (dpa/mig) Aktuell Wirtschaft
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