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Miriam Rosenlehner, Migazin, Portrait, Rassismus, Schriftstellerin, Buch
Miriam Rosenlehner © privat, Zeichnung: MiGAZIN

Ansichten & Aussichten

Caren

Die Beteiligten vor Gericht: Caren, weine weiße Frau, und Every, ein Schwarzer Mann. Das Motiv, Rassismus, sollte man nicht sagen. Erster Akt.

Von Dienstag, 02.05.2023, 13:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 06.08.2023, 14:16 Uhr Lesedauer: 12 Minuten  |  

Every Blackman lebt seit über 30 Jahren mit dem in Deutschland geduldeten Rassismus. 30 Jahre, in denen Blackman hart arbeitete, wenig verdiente und sich nie beschwerte. An der Spülstraße, an der er seither steht, läuft der Dreck der Wohlstandgesellschaft durch. Er teilt sich die Spülstraße mit Caren. Sie ist eine weiße Frau, die es auf ihn abgesehen hat, seitdem sie in seine Küche kam. Niemand hat sie seither aufgehalten. Das ist vermutlich der Grund, warum sie weitermacht.

Caren und ihre Clique haben klein angefangen. Die üblichen rassistischen Bemerkungen, kleine Lügen, Demütigungsversuche, Machtspiele. Every hat es ertragen. Er lächelt wenig, erledigt seinen Job und verschwendet seine Zeit nicht mit der Befassung mit Carens. Auch sonst interessiert sich niemand für den alltäglichen Rassismus, den Leute wie Every erfahren.

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Caren heißt natürlich nicht so, aber ihr Pseudonym ist ebenso wenig zufällig gewählt wie das von Every. Sie steht für all die weißen Frauen, die das Potenzial haben, Hassverbrechen an vorwiegend männlichen Zielpersonen von Rassismus zu begehen. In den USA ist „Caren“ ein bekannter feststehender Ausdruck für weiße Frauen, die die Cops rufen, um Schwarze Leute falsch zu beschuldigen. Es ist bekannt, dass das eine der rassistischen Praxen ist, die bereits viele Schwarze ins Gefängnis brachten oder das Leben kosteten.

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„In den USA ist „Caren“ ein bekannter feststehender Ausdruck für weiße Frauen, die die Cops rufen, um Schwarze Leute falsch zu beschuldigen.“

Warum machen Carens so etwas? Warum zeigen Sie Schwarze unbescholtene Bürger an, lügen, verleumden und bringen sie in Gefahr? Weil sie ganz normale Rassist:innen sind. Sie benutzen die rassistische Infrastruktur für ihre Zwecke. Wenn sie Frauen sind, bevorzugen sie diese Form von Gewalt, weil sie dazu nicht körperlich überlegen sein müssen. Sie wählen das Mittel, (weiße) Autoritäten herbeizurufen, um ihren Überlegenheitsanspruch zu sichern. Und sie tun all das, weil sie es können. Carens sind Weitermacher, weil wir sie nicht aufhalten.

Everys Caren und ihre Freunde profitieren von unserem Rassismus. Ihre Anfeindungen, die sich im Laufe der Jahre zu Verleumdungen steigerten, bewirken, dass Every noch härter arbeitet. Wenn sie behaupten, er sei faul, rechnen sie damit, dass andere Weiße ihnen glauben – es entspricht einem Klischee. Deshalb lässt Every sich für die härtesten Wochenendschichten eintragen, weil er jeden Tag das Gegenteil beweisen muss. Deshalb übernimmt er Teile von Carens Arbeit, die sie stehen lässt, weil sie weiß, dass er sich nicht beschweren kann. Deshalb hat sie die leichteren Schichten und am Wochenende frei, wenn sie möchte. Every dagegen hat auch nicht frei, wenn seine Partnerin Geburtstag feiert.

„Es war der Tag, an dem er nicht mehr akzeptierte, dass diese Frau ihn schikanierte. Das muss es gewesen sein, was sie so weit gebracht hatte, das folgende Hassverbrechen zu begehen.“

In den letzten Monaten steigerten sich Carens Angriffe. Der Tag, an dem Caren das tat, was in den USA als Hassverbrechen hart bestraft wird, falls es beweisbar ist, war ein arbeitsreicher Nachmittag. Sie beendete ihre Schicht vorzeitig, blieb aber, als Every sich an die Arbeit machte. Das übriggelassene Geschirr, das sie hatte stehen lassen, übernahm Every. Das saubere Ende der Waschstraße stapelte er auf den dafür vorgesehenen Tisch, Teller für Teller. Als er sich erneut zum Tisch umdrehte, mischte die Frau schmutziges Geschirr unter das saubere. Er wies sie darauf hin, worauf sie sagte: Ist das vielleicht sauber? Hier nix Afrika! Caren war bereits vorher handgreiflich geworden, jetzt ging sie mit einem metallenen Küchenspatel im Industrieformat auf Every zu.

Every entwand ihr das gefährliche Gerät und sie verließ wutentbrannt die Küche. Er war auch wütend, wenn auch lange nicht so wütend, wie man angesichts der jahrelangen Angriffe sein müsste. Er folgte ihr, sie schrien sich gegenseitig an, es ist unklar, ob er ihr vor das Brustbein tippte. Es war der Tag, an dem er nicht mehr akzeptierte, dass diese Frau ihn schikanierte. Das muss es gewesen sein, was sie so weit gebracht hatte, das folgende Hassverbrechen zu begehen.

In der Küche waren sie allein gewesen. Aber hier im Aufenthaltsraum waren andere Leute dabei. Diese waren Zeugen des weiteren Verlaufs. Bei den Vorbereitungen auf den Prozess gingen wir die Zeugenliste durch und ich musste Every fragen: Gehört der zu den Rassisten? Und was ist mit dem anderen Zeugen, ist er Rassist? Denn das sind die Fragen, die man sich in einem Verfahren stellt, in dem es offiziell nicht um Rassismus gehen darf, weil das bei uns nicht strafbar ist. Das sind die Fragen, die man sich stellt: Werden es zuverlässige Zeugen sein? Oder werden sie lügen? Wir wissen sehr genau, wem geglaubt wird.

„Er weiß, dass es problematisch sein wird, den Rassismus zu benennen. Er weiß, dass das dem Fall eher schaden als nutzen wird. Er weiß, dass Zeugen mit „Vorurteilen“, wie er es nennen würde, leichter bereit sind, die Unwahrheit zu sagen.“

Auch unser weißer Anwalt, der wirklich keine Ahnung von Rassismus hat, weiß, wem geglaubt wird. Er sagt: Die Frau sagte in ihrer Polizeiaussage, was man ohnehin schon denkt über Schwarze. Und so ganz falsch sei das ja nicht immer. Das ist unser Anwalt. Er ist ein guter Mann, er hat alles für mich und mein Umfeld bisher durchgefochten. Aber er weiß nichts von seinem Rassismus, er hält sich da einfach für normal. Weil das normal ist, und weil Anwälte kein Gütesiegel Rassismussensibilität haben, haben wir uns trotzdem auf ihn verlassen müssen. Wenngleich er nichts über Rassismuskritik weiß, weiß er doch, was wir vor Gericht sagen können und was nicht. Er weiß, dass es problematisch sein wird, den Rassismus zu benennen. Er weiß, dass das dem Fall eher schaden als nutzen wird. Er weiß, dass Zeugen mit „Vorurteilen“, wie er es nennen würde, leichter bereit sind, die Unwahrheit zu sagen.

Caren verlor den Streit über das Geschirr mit Every an diesem Tag in der Küche. Sie war das nicht gewohnt. Every hatte diesmal nicht zugelassen, dass sie ihn so behandelte. Sie war wütend. Sie traf die Entscheidung, die vor ihr viele weiße Frauen getroffen haben. Sie ging zur Polizei und log.

Sie behauptete, er habe sie geschlagen, getreten, gegen die Wand gestoßen, mit der Faust in den Rücken geboxt, ihr den Arm verdreht. Wie kam es dazu, fragte die Polizei. Weil er Drogen nehme. Weil er aggressiv gegen Frauen sei. Alle Frauen im Betrieb hätten vor Every Angst.

„Caren sagte das, weil sie damit rechnete, dass weiße Leute, dass wir, dass die Polizei ihr glauben werden.“

Sie spulte alle rassistischen Stereotype ab, die sie kannte. Und als sie behauptete, Every nehme Drogen und sei aggressiv gegen Frauen, rechnete sie mit der Komplizenschaft dieser Gesellschaft. Mit Ihrer Komplizenschaft, liebe Leser:innen, rechnen all die Carens da draußen. Caren sagte das, weil sie damit rechnete, dass weiße Leute, dass wir, dass die Polizei ihr glauben werden. Caren rechnet fest mit uns und mit einem System, das Every schaden wird. Sie besitzt keine höhere Bildung, aber das weiß sie ganz genau.

Nach einigen Wochen landete ein Strafbefehl wegen Körperverletzung in Everys Postkasten. Ein Richter hat tatsächlich ohne weitere Prüfung entschieden, dass Every wegen seines angeblichen Angriffs Strafe zahlen soll, und das nicht zu knapp. Wie die Aktenlage das hergeben soll, bleibt uns schleierhaft. Das, was Caren behauptete, konnte auch der Arzt auf ihrem Körper nicht erkennen. Keine schweren Verletzungen, Prellungen, Blutergüsse oder was sonst zu erwarten gewesen wäre, hätte sie die Wahrheit gesagt. Trotzdem soll Every zahlen. Also bereiten wir nun den Prozess vor. Aber wir müssen Angst haben, dass sie ihr glauben, nicht ihm. Weil sie weiß ist.

Das scheint ein ungeheuerlicher Vorwurf zu sein, nicht wahr? Aber sehen wir uns die Sachlage an: Every weiß es, deswegen hat er die Aussage verweigert. Caren weiß es, deshalb hat sie ganz bestimmte Lügen verwendet und sich zudem getraut, die Polizei anzulügen. Unser Anwalt weiß es, obwohl er kein Antirassist ist. Deshalb dringt er darauf, das Rassismusthema in der Sache möglichst klein zu halten.

Caren Hatecrime

Every Blackman ist kein Einzelfall. Er wurde Opfer einer Form des Hassverbrechens, das in den USA als solches weithin bekannt ist. Im Internet gibt es jeden Tag ein neues Beweisvideo, das einen Tathergang von Bedrohung mit Cops und falschen Anzeigen bei der Polizei zeigt.

„Gemeinsam haben diese Fälle häufig, dass weiße Leute sich berechtigt fühlen, Schwarze zu kontrollieren und zu bestimmen, wann und wo sie was und wie tun.“

Mal wollen weiße Passanten den Ausweis eines Schwarzen Mannes sehen, weil der „Black Lives Matter“ an seine eigene Hausmauer malt. Mal wollen Anwohner einen Schwarzen Lieferanten kontrollieren und drohen ihm mit der Polizei, wenn er sich nicht ausweist. Gemeinsam haben diese Fälle häufig, dass weiße Leute sich berechtigt fühlen, Schwarze zu kontrollieren und zu bestimmen, wann und wo sie was und wie tun. Wer sich widersetzt, dem wird damit gedroht, die Cops zu rufen. Alle diese Leute verlassen sich auf die Vorurteile, die auch die Cops haben werden. Sie wissen, dass Schwarze Leute dreizehn Mal häufiger in Polizeikontrollen getötet werden als weiße. Sie wissen, dass man Schwarzen Leuten vor Gericht weniger glauben wird als weißen. Sie wissen, dass sie einen unschuldigen Mann mit einer Falschaussage bedrohen können und sie rechnen damit, dass ihnen selbst dabei nichts passiert.

Das tun sie selbst dann, wenn eine Kamera auf sie gerichtet ist, so wie im Fall von Amy Cooper im Central Park 2020. Sie rief die Cops und schrie mit bebender Stimme: „Ein Schwarzer Mann bedroht mich und meinen Hund“. Sie tat das, während sie wusste, dass der Schwarze Mann die ganze Situation aus einem Abstand von 10 Metern filmte. Sie tat es, weil sie ihren Hund nicht an die Leine nehmen wollte, wozu der Mann sie zu Recht aufgefordert hatte. Und sie log. Sie log direkt in die Kamera, während diese das Gegenteil filmte, um den Mann in Lebensgefahr zu bringen. Um ihn zu zerstören, wenn das nötig war, um ihren Willen zu bekommen. Warum tat sie das? Weil sie es konnte und weil sie fest mit der Komplizenschaft aller Personen mit Einfluss auf diese Begebenheit rechnete, ganz egal, ob die Kamera eine andere Geschichte als sie erzählen würde. Heute kann man das Video im Internet ansehen, Amy ist damit als „Central Park Caren“ berühmt geworden.

Der Cooper-Fall führte in New York zum Erlass eines Gesetzes, das falsche Anzeigen, die im Zusammenhang mit Rassismus stehen, als Hassverbrechen anerkennt und hoch bestraft. Viele Einzelstaaten in den USA haben dieses spezielle Hassverbrechen mittlerweile in den Gesetzeskatalog aufgenommen. Besonders amüsant ist das Gesetz San Franciscos, das 2020 verabschiedet wurde. Es trägt den Namen „Caution Against Racially and Exploitative Nonemergencies“, kurz: CAREN.

Karin-Gesetz fehlt in Deutschland

„Rassismus ist in Deutschland legal, nur die falsche Behauptung eines Verbrechens ist es nicht.“

In Deutschland fehlt ein Caren-Gesetz. Wir haben kein Gesetz, das die falsche Behauptung eines Verbrechens aufgrund von Rassismus als Hassverbrechen fasst. Weil, man muss es ja sagen, Rassismus ist in Deutschland legal, nur die falsche Behauptung eines Verbrechens ist es nicht. Das wäre als Verleumdung (bis zu 2 Jahre Gefängnis) oder Vortäuschung einer Straftat (Freiheitsstrafe bis zu 3 Jahren) verfolgbar. Aber weil wir kein Caren-Gesetz haben, haben wir gar keinen juristischen Denkrahmen für dieserart Verbrechen: Kein Motiv – kein Verbrechen.

Brauchen wir ein Caren-Gesetz? Ja, unbedingt. Denn wer den Fall beobachtet, sieht, dass Rassismus nicht nur das Zentrum des Falls ist, sondern dass das Strukturelle an Rassismus den Fall erst ermöglicht. Wir, die rassistische Struktur, ermöglichen die Carens unter uns.

Die Struktur sehe ich, wenn ich mir Stunden um die Ohren schlage, den Fall Everys zu begleiten. Ich sehe sie, wenn die Finanzierung des „Unterfangens Gerechtigkeit“ schwierig ist. Ich sehe sie, wenn ich mir überlege, wie ich mit unserem Anwalt reden muss, weil ich ihm nicht einfach sagen kann, dass das Problem Rassismus ist. Er konnte das nicht glauben und er hielt es zunächst auch gar nicht für relevant – dabei ist Rassismus das Motiv für die Tat von Everys Caren und wir wissen, dass ohne ein Motiv eine Straftat nur schwer zu beweisen ist.

Ich sehe die Struktur, wenn genau dieser Anwalt weiß, dass man das einem Richter besser nicht sagt und wenn, dann nicht so deutlich. Ich sehe es, wenn ich daran denke, dass Every wusste, dass er die Aussage verweigern muss, weil er nicht sicher sein kann, wie die Polizei vorgehen wird. Ich sehe es, wenn wir uns fragen, ob Zeugen lügen werden, weil sie Rassisten sind und, wenn ich weiß, dass wir das nirgendwo vorbringen können. Ich sehe es, wenn ich weiß, dass wir an eine Richter:in geraten können, die selbst Vorurteile hat, eine Richter:in, bei der es wahrscheinlich ist, dass sie nicht rassismussensibel ausgebildet ist.

„Every hat keine Wahlmöglichkeit, weil die rassistische Infrastruktur überall gegen ihn arbeiten wird.“

Ich sehe die Struktur, wenn wir uns sorgen müssen, dass eine Richter:in denken könnte, wir „spielen die Rassismuskarte“. Ich sehe es, weil ich weiß, dass Every Caren niemals angezeigt hat und im Traum nicht darauf gekommen wäre. Ich sehe es, weil wir überlegten, ob man die Chefs von Every ansprechen könnte, das aber verworfen haben, weil wir wissen, dass sie den Vorfall eher als Bedrohung ihrer Einnahmequelle sehen werden, weil er öffentlich werden könnte. Ich sehe es, wenn ich die Sicherheit von Everys Caren sehe und die der langen Reihe der Carens aus den Medien. Ich sehe es, weil frühere Verleumdungen von Everys Caren, selbst als sie aufgedeckt wurden, beim Arbeitgeber zu keinen Konsequenzen führten.

Ich sehe es, weil Every den Rassismus seiner Kolleg:innen seit Jahrzehnten erträgt, wenig darüber spricht und weiter dort arbeitet. Es gibt keinen Job, in dem ihm nicht etwas Ähnliches passieren könnte. Every hat keine Wahlmöglichkeit, weil die rassistische Infrastruktur überall gegen ihn arbeiten wird.

Fortsetzung in der nächsten Kolumne.

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