„Es gibt keine legalen Fluchtwege“

Migrationsexperte warnt vor Verschärfung der EU-Grenzpolitik

EU-Innenminister beraten über die Reform des gemeinsamen europäischen Asylsystems. Der Rechts- und Politikwissenschaftler Maximilian Pichl befürchtet eine deutliche Verschlechterung für Schutzsuchende. Die Verteilung von Geflüchteten innerhalb der EU würden derweil nicht adressiert, kritisiert Pichl im Gespräch.

Von Dienstag, 06.06.2023, 15:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 08.06.2023, 10:38 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Die Bundesregierung strebt eine umfassende Reform des EU-Asylsystems an. Debatten über Migration sind oft aufgeladen. Wie faktenreich wird die Diskussion geführt?

Maximilian Pichl: Unabhängig von der Frage, wie man diesen EU-Asylkompromiss sieht, finde ich es erschreckend, dass ganz elementare Grundprinzipien der europäischen Migrationspolitik und des Asylrechts nicht verstanden werden. Ein Beispiel: In Talkshows vertauschen Politiker sichere Herkunftsstaaten und sichere Drittstaaten. Diese Ungenauigkeiten führen dazu, dass aktuelle Vorschläge teilweise nicht richtig eingeschätzt werden.

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Die Ampel-Koalition hat sich für Asylverfahren an den EU-Außengrenzen ausgesprochen. Danach hieß es, die EU-Kommission stelle sich hinter die Vorschläge der Bundesregierung. Treibt die Bundesregierung dieses Vorhaben voran?

Maximilian Pichl: In Medien hieß es, die EU unterstütze den Plan von Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD). Das Ganze ist aber ein Vorschlag der EU-Kommission. Die Bundesregierung hat nur ihre Verhandlungsposition zu diesem Vorschlag formuliert. Die EU-Kommission versucht seit 2015 die Gesetze zum europäischen Migrationsrecht zu verändern. Seit 2020 liegt der EU-Migrations- und Asylpaket auf dem Tisch. Zweifellos hat Deutschland darauf viel Einfluss genommen, aber das war noch unter dem damaligen Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU).

Positionen der Bundesregierung zu Kommissionsvorschlägen sind oft nicht öffentlich nachlesbar. Auch jetzt wurden Details erst bekannt, als die Plattform „Frag den Staat“ das Positionspapier veröffentlichte. Halten Sie das für problematisch?

Maximilian Pichl: Dass die Position der Bundesregierung für Gesetzgebungsprozesse auf der EU-Ebene oft überhaupt nicht klar ist, halte ich für ein Problem in einer Demokratie. Diese europäischen Gesetze werden erheblichen Einfluss auf das Zusammenleben in Europa haben, denn Europarecht steht über nationalem Recht. Solche Positionen müssten viel stärker diskutiert werden und dafür müssen sie öffentlich zugänglich sein.

Gehen wir die Position der Ampel durch. Innenministerin Faeser fordert öffentlich „Asylverfahren an der Außengrenze“. Das Positionspapier spricht von Grenzverfahren. Was ist damit gemeint?

Maximilian Pichl: Grenzverfahren stammen aus dem Entwurf der EU-Kommission. Sie sollen Asylverfahren vorgeschaltet werden. Dort liegt der Fokus nicht auf der Prüfung der individuellen Fluchtgründe einer Person, die beispielsweise aus Afghanistan vor den Taliban geflohen ist, sondern es werden vor allem formale Kriterien überprüft. Dazu zählt beispielsweise die Frage, ob die Person aus einem sicheren Drittstaat eingereist ist, etwa der Türkei, und ob sie dorthin zurückgeschickt werden kann. Ein Großteil der Menschen soll bereits nach diesem Verfahren abgeschoben werden. Das steht in großem Widerspruch zum Koalitionsvertrag, in dem die Ampel-Koalition festgelegt hat, dass jeder Asylantrag inhaltlich geprüft werden soll.

Der Vorschlag der Ampel sieht vor, dass Haft bei diesen Grenzverfahren nur im Notfall angewendet wird. Ist das realistisch?

Maximilian Pichl: Schon die Kommission hat geschrieben, dass Haft „Ultima Ratio“ sein soll – aber wie das funktioniert, ist völlig unklar. So lange die Grenzverfahren dauern, sollen die Menschen den Ort nicht verlassen können. In der Praxis heißt das automatisch, dass sie inhaftiert werden. Wir können jetzt schon sehen, dass Griechenland geschlossene Zentren aufgebaut hat, etwa auf den Inseln Samos und Kos, möglicherweise auch schon im Vorgriff auf dieses neue EU-Asylsystem. Das wären dann Orte, an denen Menschen über einen langen Zeitraum inhaftiert werden und von wo aus sie abgeschoben werden sollen.

In den Grenzverfahren gilt die sogenannte Fiktion der Nichteinreise. Was hat es damit auf sich?

Maximilian Pichl: Das ist ein juristisches Konzept, das bedeutet, dass die Menschen zwar tatsächlich in Europa sind, aber rechtlich so behandelt werden, als wären sie nicht eingereist. Das gibt es schon länger, zum Beispiel in deutschen Flughafenverfahren. Die Idee dahinter: Wer juristisch nicht eingereist ist, hat auch nicht den vollwertigen Anspruch auf das europäische Asylrecht. Zum Beispiel ist der Rechtsschutz abgeschwächt. Erst wenn die Person das Grenzverfahren überstanden hat, ohne abgeschoben zu werden und sich im regulären Asylverfahren befindet, gilt sie als eingereist und hat die vollwertigen Rechte.

Reist ein Schutzsuchender dann ein, gilt laut der Dublin-Verordnung bisher das Land als zuständig für seinen Asylantrag, in dem die Person ankommt. Die EU-Staaten an der Außengrenze beklagen, das sei unfair. Strebt die EU-Reform diesbezüglich Änderungen an?

Maximilian Pichl: Die Verteilungsfrage ist die große Frage, an der die Reform wahrscheinlich scheitern wird. Es bleibt bei dem systemischen Problem der Dublin-Verordnung, dass der Staat der Ersteinreise verantwortlich sein soll. Die Staaten an der Außengrenze wollen das nicht länger tragen. Dazu gibt es einen Solidaritätsmechnanismus – allerdings auf freiwilliger Basis. Deutschland könnte freiwillig anbieten, eine gewisse Zahl Schutzsuchender zu übernehmen.

Was würde es für die Staaten an der EU-Außengrenze bedeuten, wenn das Migrationspaket kommt?

Maximilian Pichl: Ich glaube, dass wir dann ein noch brutaleres System bekommen. Wenn das EU-Migrationspaket kommt, werden die Staaten an der Außengrenze noch schärfer versuchen, mit allen Mitteln zu verhindern, dass Menschen hier ankommen. Es wird wahrscheinlich noch härtere Pushbacks geben. Außerdem wächst der Druck, die EU-Grenze weiter auszulagern. Einige Staaten, zum Beispiel Österreich und Dänemark, wollen die Asylverfahren nicht mehr in Europa, sondern in Asylzentren in afrikanischen Ländern haben.

Hoffen Sie, dass die angestrebte Reform des Migrationsrechts scheitert?

Maximilian Pichl: Ich war immer ein großer Kritiker des aktuellen Migrationsrechts, weil es unsolidarisch und restriktiv ist. Aber aktuell erscheint es mir besser als das, was zur Verhandlung steht. Mit dem Paket würde sich vieles verschärfen, aber das ist ein Placebo-Paket, das Handlungsbereitschaft suggeriert, ohne die Probleme zu lösen.

Wie sehen Sie die Entwicklung der Migrationspolitik der vergangenen Jahre in Europa?

Maximilian Pichl: Vor dem Sommer 2015 gab es Zeichen, dass die Rechte von Flüchtlingen gestärkt werden. Es gab zum Beispiel europäische Urteile, die positive Signale für die Seenotrettung gesendet oder Abschiebungen nach Griechenland verhindert haben. Seit 2015 erleben wir einen Rückschlag – in der Debatte, aber auch gesetzgeberisch mit massiven Asylrechtsverschärfungen.

Die Bundesregierung betont, sie wolle irreguläre Migration beschränken, aber legale Migrationswege schaffen. Wie steht es um diese legalen Wege in die EU?

Maximilian Pichl: Es gibt eigentlich keine legalen Fluchtwege in die EU. Die Menschen können nicht mit dem Flugzeug kommen, wegen harscher Visakontrollen. Sie sind dazu gezwungen, auf die lebensgefährlichen Fluchtrouten auszuweichen. Es gibt kaum Aufnahmeplätze für Menschen aus Flüchtlingscamps. Humanitäre Visa, bei denen Menschen in Botschaften ein Verfahren auf europäischem Boden beantragen, stehen auch nicht zur Debatte. Lediglich Fachkräften für den hiesigen Arbeitsmarkt soll die Einreise erleichtert werden. (epd/mig) Interview Leitartikel Politik

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