Nebenan
What about isms?
So much to do, so little time. Manchmal gibt es so vieles, über das man dringend reden sollte, dass es besser ist, über alles und doch nichts davon zu reden.
Von Sven Bensmann Montag, 12.06.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 12.06.2023, 10:05 Uhr Lesedauer: 6 Minuten |
Whataboutism ist mittlerweile wieder fest im Arsenal der Waffen unserer Diskussionskultur verankert und begegnet uns als eine Art Argument fast jeden Tag. Für alle die es nicht wissen: Whataboutism wird üblicherweise als eine Art „Ablenkungsstrategie“ dargestellt: Russland ist völkerrechtswidrig in der Ukraine einmarschiert. – Ja, aber what about all die völkerrechtswidrigen Überfälle des Westens auf andere Länder? – Ja, nee, sorry, das is Whataboutism. Da reden wir jetzt gerade nicht drüber. Jetzt gerade reden wir über Russland. Wir können ja über die Kriegsverbrechen des Westens reden, wenn uns das gerade nicht interessiert und es nicht allzu viel Aufmerksamkeit erhält. Sonst müssten wir ja dieselben moralischen Maßstäbe an unser Verhalten anlegen, wie an alle anderen.
Till soll Frauen vergewaltigt haben. – Ja, aber what about die vielen Fälle, in denen Till keine Frauen vergewaltigt hat, was mit den Fällen in denen Frauen Männer vergewaltigt oder missbraucht haben? – Joah, öh, nee, passt jetzt gerade nicht. Das ist Whataboutism. Wir reden gerade über Till im Speziellen und Männer im Allgemeinen, die Frauen missbrauchen bzw. missbraucht haben sollen, da lenkt das nur ab. Dass Missbrauch sich perpetuiert und Männer, die selbst missbraucht wurden, ihrerseits Frauen missbrauchen, vielleicht umso mehr, weil Männern die Werkzeuge fehlen, damit umzugehen, weil sie noch immer eher ein „Indianer kennt kein‘ Schmerz“ als ein „Brauchst du Hilfe?“ hören – geschenkt. Denn wenn wir darüber redeten, wäre die Diskussion ja plötzlich der Komplexität des Problems angemessen. Und ja: so weit ist diese Diskussion soweit ich mitbekommen habe aktuell noch nicht, aber auch da wird sie unweigerlich wieder landen. Weil sie auch da immer landet. Terry Crews anyone?
„But what about Menschenrechte, what about Art. 1 GG? – Joa, nö…och…joa…nö. Das ist Whataboutism.“
Deutschland schafft, in einer breiten Koalition von AfD und CDU/CSU auf der rechten über die Grünen bis hin zur Interessengemeinschaft der AfD-Wähler in der Linken (a.k.a. die Wagenknecht-Gruppe, a.k.a. „Wir eruieren, ob wir eine eigene Partei aufmachen, aber bis dahin wollen wir erst einmal unsere Linken-Mandate genießen“) das Asylrecht in Europa endgültig ab. – But what about Menschenrechte, what about Art. 1 GG? – Joa, nö…och…joa…nö. Das ist Whataboutism. Und wenn wir plötzlich für Menschenrechte einstehen und nicht die Polemiken der AfD affirmieren, dann wird die noch größer als jetzt schon. Außerdem würden wir uns ja in Europa isolieren, weil alle anderen dagegen sind – und das tun wir nur für Verbrenner.
Immer wieder finden sich beispielsweise auch in deutschen Zeitungen hier und da an militanten Aktivismus grenzende Texte, die von ausländischen Oppositionellen geschrieben und dann praktisch unkommentiert abgedruckt wurden. Durch das Umfeld, in dem diese Texte auftauchen, vermitteln sie denn den Eindruck, dass es sich dabei um seriösen Journalismus handele – wenn schon nicht bei den Texten selbst, dann doch zumindest dabei, diesen Menschen Raum zu geben, ihre Teils radikalen Meinungen in den Hauptnachrichten, der Tageszeitung oder sonstwo zu äußern.
But what about AfD?
Insbesondere seit dem Überfall Russlands auf die Ukraine, aber auch schon lange davor waren deutsche Oppositionelle immer wieder durch russische Medien protegiert worden, durften ihren teils militanten Aktivismus in Massenmedien verbreiten – und aus der deutschen Medienlandschaft folgten stets Verurteilungen der Politiker, aber auch jener Medien, dass so etwas ja wohl gar nicht gehe.
Was ist also damit?
„Whataboutism ist … zu einem Schimpfwort geworden, obwohl und weil er die Betroffenen mit deren eigener Doppelmoral konfrontiert, die eigene Scheinheiligkeit offenbart.“
Ist es nun verwerflich, als sich seriös gebendes Medium politischen Aktivisten, die dem eigenen Weltbild nahestehen, in der Auslandsberichterstattung großen Raum zu geben, an Stelle einer neutraleren, zurückhaltenderen eigenen Berichterstattung, oder nicht?
Whataboutism ist gerade deshalb in der deutschen Öffentlichkeit und insbesondere der deutschen Linken zu einem Schimpfwort geworden, obwohl und weil er die Betroffenen mit deren eigener Doppelmoral konfrontiert, die eigene Scheinheiligkeit offenbart. Rechte haben damit weniger ein Problem, weil sie in moralischen Dingen weitgehend schmerzbefreit sind, aber wer Moral für sich in Anspruch nimmt, ist durch die Frage „But what about…?“ oft in seinem tiefsten Innern getroffen – und leistet den Offenbarungseid der eigenen Pseudomoralität.
„What about“ ist – in vielen Fällen – keine Ablenkung, kein Wegducken und sollte auch nicht generalisierend so genutzt werden. Es ist die Aufforderung, auch das Brett vor dem eigenen Kopf zu thematisieren, wenn man den Splint im Auge des anderen benennt. Wer sich der Frage „What about“ pauschal verwehrt, trägt die eigene moralische Verkommenheit wie eine Alkoholfahne vor sich her.
„Reden wir über Transpersonen, die aus Russland fliehen, aber auch über deutsche Ortskräfte, die wir den Taliban ausgeliefert haben.“
Reden wir also über die Kriegsverbrechen Russlands, aber tun wir nicht so, als gehörte nur Wladimir Putin nach Den Haag. Reden wir über Transpersonen, die aus Russland fliehen, aber auch über deutsche Ortskräfte, die wir den Taliban ausgeliefert haben, über Kurden und Jesiden, die Deutschland in den Irak abschiebt, über alle Menschen, die wir zurück in den Iran schicken – und die, die niemand mehr abschieben kann, weil sie im Mittelmeer verreckt sind, weil wir das so wollten. Reden wir über Till, und was in seinem Umfeld passiert sein soll, weil das dringend nötig ist. Und wenn ein vielleicht völlig unbekannter Mann in diesem Zusammenhang den Mut fassen sollte, über seine eigenen Erfahrungen mit Missbrauch zu sprechen, dröhnen wir ihm doch einfach mal kein kaltes „Halt die Fresse, wir reden gerade nicht über dich!“ entgegen, als wäre das je eine Option gewesen, wenn nicht gerade generell über Missbrauch gesprochen wird, sondern hören wir zu und finden wir die Ursache dafür, warum in Deutschland und der Welt Menschen missbraucht werden. Statt das Problem nur zwischen den Beinen einflussreicher Männer zu verorten, wo es sich zugegebenermaßen statistisch in unserer Gesellschaft häufiger finden lässt, wäre es doch sinnvoll, auch dieses Problem mal wirklich strukturell anzugehen.
„Wir im Westen halten uns … stets für die Guten, so wie wir uns auch für den Nabel der Welt halten. Aber what about, wenn wir das nicht wären?“
Reden wir auch über journalistische Standards, und darüber, dass, was auf dieser Seite der Grenzen anständig und seriös ist, außerhalb dieser Grenzen nicht per se verwerflich sein kann, selbst dann nicht, wenn es uns nicht gefällt und wir mit der dort geäußerten Meinung nicht übereinstimmen. Denn wenn wir Schuld nicht mehr nur externalisieren, könnte es am Ende passieren, dass wir selbst zu besseren Menschen werden – und ich gehöre noch zu der Art von Mensch, die das als etwas tendenziell eher Positives versteht.
Wir im Westen halten uns – und das ist das einzige Fundament unserer Kultur; kein christliches, schon gar kein jüdisches Abendland – stets für die Guten, so wie wir uns auch für den Nabel der Welt halten. Aber what about, wenn wir das nicht wären? Wenn alle Menschen gleich an Würde und Rechten wären? Denken Sie doch mal drüber nach. Meinung
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