„Orchestrierte Sterbebegleitung“
UN kritisert EU: Strategie im Mittelmeer als gescheitert
Nach dem verheerenden Bootsunglück vor Griechenland mit Hunderten Toten sehen UN- und Menschenrechtsorganisationen die EU-Strategie im Mittelmeer als gescheitert. Derweil wird der Schuldige für das Unglück gesucht. Überlebende belasten die griechische Küstenwache.
Sonntag, 18.06.2023, 18:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 18.06.2023, 19:07 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Das Flüchtlingshilfswerk UNHCR und die Internationale Organisation für Migration (IOM) haben die EU nach der jüngsten Bootstragödie vor Griechenland mit Hunderten Toten zu entschlossenem Handeln aufgerufen. Weitere Todesfälle wie bei dem schlimmsten Unglück im Mittelmeer seit mehreren Jahren müssten verhindert werden, verlangten die beiden UN-Organisationen am Freitag in Genf. Schwere Vorwürfe gegen die griechischen Behörden und die EU kamen auch von Überlebenden und der Menschenrechtsorganisation Pro Asyl.
Das Fischerboot mit bis zu 750 Flüchtlingen an Bord war am Mittwoch westlich der Halbinsel Peloponnes gekentert. Etwa 100 Überlebende wurden gerettet und bislang rund 80 Leichen geborgen. Laut IOM sind in diesem Jahr bereits etwa 1.300 Menschen bei der Überquerung des Mittelmeers ums Leben gekommen oder werden vermisst.
Die EU müsse Sicherheit und Solidarität in den Mittelpunkt ihres Handelns im Mittelmeerraum stellen, sagte Gillian Triggs, stellvertretende UNHCR-Hochkommissarin. Dazu gehöre die Einrichtung eines regionalen Ausschiffungs- und Umverteilungsmechanismus für Menschen. Der IOM-Direktor für Notfälle, Federico Soda, fügte hinzu, es sei klar, dass der derzeitige Ansatz der EU für das Mittelmeer nicht funktioniere. Jahr für Jahr sei das Meer zwischen Europa und Afrika die gefährlichste Migrationsroute der Welt mit der höchsten Todesrate. Die Staaten müssten gemeinsam die Lücken bei Suche und Rettung schließen. Dabei sollten die Rechte der Migranten und die Rettung von Menschenleben im Mittelpunkt stehen.
Das sieht aus wie „orchestrierte Sterbebegleitung“
Der Chef der EU-Grenzschutzagentur Frontex, Hans Leijtens, räumte ein, dass seine Behörde seit Dienstag von dem überfüllten Fischerboot wusste. Frontex habe es den griechischen Behörden gemeldet, sagte er der „Süddeutschen Zeitung“. Zunächst hieß es, den Menschen an Bord sei Hilfe angeboten worden, diese hätten sie jedoch ausgeschlagen.
Nach Einschätzung von Pro Asyl hätten sowohl Frontex als auch die griechischen Behörden handeln müssen. „Sie hätten sofort Rettungsmaßnahmen einleiten müssen. Denn das Schiff befand sich in der griechischen Seenotrettungszone“, sagte der Leiter der Europaabteilung der Menschenrechtsorganisation, Karl Kopp, dem „Redaktionsnetzwerk Deutschland“. Es sei nicht zu verstehen, dass nichts geschehen sei. „So sieht es aus wie orchestrierte Sterbebegleitung.“ Die Friedhöfe im Mittelmeer reihten sich aneinander.
Überlebende berichten von Pushback
Mehrere Überlebende berichten unabhängig voneinander, dass das Boot von der griechischen Küstenwache abgeschleppt wurde in Richtung italienische Gewässer. Die Rede ist von Pushbacks. Darunter versteht man Maßnahmen, mit denen flüchtende Menschen daran gehindert werden, die Grenze zu übertreten und einen Asylantrag zu stellen. Die Küstenwache weist den Vorwurf von Push-Backs zurück – jetzt soll die europäische Polizeibehörde Europol ermitteln. Als gesichert gilt: Zwischen der ersten Sichtung des überfüllten Bootes und dem Unglück lagen etwa 24 Stunden.
Wie Pro Asyl machen zahlreiche Menschenrechts- und Seenotrettungsorganisationen die EU und Frontex aufgrund ihrer Abschottungspolitik mitverantwortlich für den Tod der Menschen. In der griechischen Hauptstadt Athen gingen am Donnerstag Tausende Menschen auf die Straße, um gegen die griechische und europäische Flüchtlingspolitik zu demonstrieren. Für die kommenden Tage sind europaweit Protestaktionen geplant.
Flucht über Mittelmeer mehr als verdoppelt
Die EU-Grenzschutzagentur Frontex gab derweil bekannt, dass sich die Flucht über das zentrale Mittelmeer in diesem Jahr mehr als verdoppelt hat. Über 50.300 Männer, Frauen und Kinder hätten die EU von Januar bis Mai über diese Route und ohne Einreiseerlaubnis erreicht, teilte Frontex am Freitag mit. Das sei ein Anstieg um 160 Prozent im Vergleich zum Vorjahr und die höchste erfasste Zahl seit 2017. Das zentrale Mittelmeer bleibe damit die Hauptroute für Migrantinnen und Migranten in die EU.
Unterdessen sollten die am Donnerstag festgenommenen Besatzungsmitglieder des gekenterten Fischerbootes bis Montag eine Aussage machen. Die neun Männer, die nach Medienberichten aus Ägypten stammen, würden des Schleusertums verdächtigt und wegen der Bildung einer kriminellen Organisation angeklagt, berichtete die griechische Zeitung „Kathimerini“ am Freitag in ihrer Online-Ausgabe. Sie hätten um Zeit bis Montag gebeten, um ihre Aussage vorzubereiten. Acht des Festgenommenen befinden sich dem Bericht zufolge in der Polizeistation der Hafenstadt Kalamata, einer im lokalen Krankenhaus. (epd/mig) Leitartikel Panorama
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