Frankreich
Nahel, nur die Spitze des Eisbergs
Der Fall Nahel ist nur der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Vom Ideal der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ist Frankreich weit entfernt. Ob aber die Proteste helfen?
Von Anja Seuthe Montag, 03.07.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 02.07.2023, 19:15 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
In Frankreich wurden im letzten Jahr 948 Menschen Opfer eines Tötungsdelikts. Diese Zahl schließt auch die Menschen ein, die infolge einer schweren Körperverletzung verstarben. 948 Menschen. Das sind zwei bis drei Fälle pro Tag, von denen man kaum je etwas gehört hat, schon gar nicht im Ausland.
Der 17-jährige Nahel, der am 27. Juni in Nanterre erschossen wurde, ist also nur ein Opfer unter vielen. Warum also zieht der Fall so eine Aufmerksamkeit auf sich? Löst Proteste in ganz Frankreich aus?
Einschlägige Kommentatoren fragen sich, ob es nicht geeignetere Opfer gäbe, die es wert sind, für sie auf die Straße zu gehen? Jünger, weiblicher, weißer vielleicht? Menschen, die unsere Empathie verdienen. Eben keine polizeibekannten Jugendlichen nordafrikanischer Abstammung. Was damit gemeint ist, erschließt sich, wenn man sich durch die Medien scrollt. Da heißt es, dass Frankreich sich in bürgerkriegsähnlichen Zuständen befindet und Schuld daran die Einwanderungspolitik habe. Dass Multikulti gescheitert sei. Und dass angesichts der Bilder der brennenden Bibliothek von Marseille auch nachvollziehbar sei, warum bestimmte Menschen eben kein Mitleid verdient haben. Eben solche, die dieselben Vornamen haben, dieselbe Herkunft, dieselbe Haarfarbe, dieselbe Religion wie Nahel. Es scheint also nachvollziehbar, dass man bei dieser „Klientel“ erst schießt und dann erst genauer hinsieht.
„Hat der Mann tatsächlich aus rassistischen Motiven geschossen? Also nur deshalb, weil ihm der Jugendliche allein durch seine augenscheinliche nordafrikanische Herkunft als „bedrohlich“ erschien?“
Was wir hier haben, ist eine geschickte Umkehr von Ursache und Wirkung. Was diesen Fall so besonders macht unter den hunderten von anderen Mordfällen, ist nicht das Opfer per se, sondern der Täter. Denn der Täter ist ein Polizist, ein Staatsbeamter, ein Vertreter des laizistischen Frankreichs, das sich Neutralität auf die Fahnen geschrieben hat. Und genau dieser Täter hat sich scheinbar die Logik der einschlägigen Kommentatoren zu eigen gemacht: Bei dieser Klientel erst schießen, dann nachfragen. Dieser Staatsdiener hat nun ein Verfahren am Hals. Er hat ein Recht darauf, nicht vorverurteilt zu werden. Also warten wir ab, was die Untersuchung ergibt. Hat der Mann tatsächlich aus rassistischen Motiven geschossen? Also nur deshalb, weil ihm der Jugendliche allein durch seine augenscheinliche nordafrikanische Herkunft als „bedrohlich“ erschien? Oder ist der Mann generell der Meinung, man könne auf Jugendliche schießen, die bei einer Verkehrskontrolle nicht anhalten?
Meine Meinung? In beiden Fällen gehört dieser Mann nicht in den Staatsdienst. Jemand, dessen falsche Einschätzung der Lage zum Tod eines Jugendlichen führt, aus was für Gründen auch immer, hat im Dienst an der Waffe nichts verloren. Die französische Polizei wird seit Jahren von den Vereinten Nationen kritisiert wegen ihres gewalttätigen Vorgehens, beispielsweise auch während der Proteste der Gelbwesten vor zwei Jahren. Tut sich da was? Nein, man verbittet sich jede Kritik.
„Abwarten, das ist das, was derzeit bei uns in Deutschland passiert im Falle des 16-jährigen Senegalesen Mohamed, der im August 2022 von der Polizei in Dortmund zuerst getasert und dann mit einer Maschinenpistole erschossen wurde.“
Sollte man trotzdem das Gerichtsurteil in Frankreich abwarten? Aber sicher sollte man das. Das wäre das, was man von einem funktionierenden Rechtsstaat und seinen Bürgern erwartet. Und was sicherlich viel besser wäre, als öffentliches und privates Eigentum abzufackeln. Abwarten, das ist das, was derzeit bei uns in Deutschland passiert im Falle des 16-jährigen Senegalesen Mohamed, der im August 2022 von der Polizei in Dortmund zuerst getasert und dann mit einer Maschinenpistole erschossen wurde. Fünf Schüsse trafen ihn, einer davon im Gesicht. Eigentlich war die Polizei gerufen worden, weil der Jugendliche als akut selbstmordgefährdet galt. Die Polizei behauptete, in Notwehr gehandelt zu haben. Eine Aussage, die Tonaufnahmen des Vorfalls widerlegen, aufgezeichnet über die zum Zeitpunkt der Tat noch offene Notrufleitung. Nun müssen sich betroffene Beamte vor Gericht verantworten. So funktioniert ein Rechtsstaat.
Abwarten, bis der Fall in Vergessenheit gerät. Wenn es damals mehr Proteste gegeben hätte, dann wäre vielleicht die öffentliche Wahrnehmung dahingehend verschoben worden, dass es sich hier nicht um einen tragischen, unvermeidbaren Einzelfall handelt, sondern um gruppenbezogene Vorurteile der Polizeibeamten. Die man auch nicht mit Verweis auf „Erfahrungswerte“ unter den Tisch kehren kann. Dann hätten wir vielleicht schon eine unabhängige Studie zum Thema Rassismus in der Polizei, die vielleicht dazu beitragen würde, dass Polizisten im Dienst sich „neutraler“ verhalten und vielleicht nicht mehr so schnell zur Waffe greifen, wenn es sich um Menschen gefühlt anderer Herkunft handelt. Stattdessen weist man, wenn Bürger dunklerer Hautfarbe beklagen, dass sie unverhältnismäßig oft in Polizeikontrollen von weißen Polizisten geraten, die Vermutung empört von sich, da könnte eine Bevorzugung der eigenen, beziehungsweise Benachteiligung der anderen Gruppe vorliegen.
Aber ist das neutral, überhaupt in Gruppen zu denken? Menschen einzuteilen nach Hautfarbe, Haarfarbe, Vornamen oder Herkunft? So wie in Bezug auf Frankreich, wenn einfach mal angenommen wird, dass Franzosen weiß sind, Randalierer aber nicht, und es sich dementsprechend auch nicht um Franzosen handeln kann, sondern eindeutig um „Muslime“? Wenn Franzosen französischer Herkunft als kultiviert gelten, Franzosen (nord-)afrikanischer Abstammung aber als „barbarisch“? Als ob Kultur in unserer DNA zu finden sei! Nein, Kultur wird gelernt und gelebt. Kultur kann Bevölkerungsgruppen aufgrund ihrer Herkunft abgeschrieben oder gar vorenthalten werden. Und genau das ist es, was in unserem Nachbarstaat passiert.
„Aber dieser letzte Fall von tödlicher Polizeigewalt gegen einen Menschen aus einer Minderheit ist nur die Spitze des Eisbergs, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt.“
Nahel ist kein wertvolleres Opfer als die anderen. Aber dieser letzte Fall von tödlicher Polizeigewalt gegen einen Menschen aus einer Minderheit ist nur die Spitze des Eisbergs, der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringt. Vom Ideal der Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit ist Frankreich weit entfernt. Ob aber die Proteste helfen?
Ich persönlich, ich halte nichts von Randale. Frankreich dagegen hat eine lange Geschichte von gewaltsamen Protesten und Straßenschlachten mit der Polizei. Das sollte man nicht vergessen, wenn man die Krawalle in Frankreich zu einem Kulturkampf hochstilisieren will. Das sind sie nicht. Sie sind weder überraschend noch neu. Und auch nicht nordafrikanisch, sondern zutiefst französisch.
Ich hoffe, dass Frankreich bald wieder ruhigeren Zeiten entgegensieht. Ich hoffe aber auch, dass dieser Fall nicht in Vergessenheit gerät, wie so viele andere, sondern Frankreich dazu bewegt, seine Haltung zu seinen Staatsbürgerinnen und Staatsbürgern zu überdenken, und zwar ungeachtet der Migrationsgeschichte. Meinung
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