„Atmendes System“
Experten schlagen Wohnraumreserve für Geflüchtete vor
Etwa 1,2 Millionen Menschen haben im vergangenen Jahr Schutz in Deutschland gesucht, rund eine Million von ihnen kamen aus der Ukraine. Das stellt Bund, Länder und Kommunen vor Herausforderungen. Experten haben jetzt Lösungswege erarbeitet: ein „atmendes System“.
Donnerstag, 06.07.2023, 18:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 05.07.2023, 20:43 Uhr Lesedauer: 2 Minuten |
Kommunale Migrationsexperten haben sich für Notfallkapazitäten in Städten und Gemeinden zur Unterbringung von geflüchteten Menschen ausgesprochen. Dafür bräuchten Kommunen aber auch langfristig finanzielle Sicherheit, heißt es in einer am Mittwoch in Berlin vom Mediendienst Integration vorgestellten Studie.
Bei jedem starken Anstieg der Geflüchtetenzahlen an Notlösungen zu stricken, lähme die Aktivitäten vor Ort, sagte Boris Kühn als einer der Autoren der Studie über „Kommunale Unterbringung von Geflüchteten“. Trotz angespannter Wohnungssituation in vielen Städten könne das Vorhalten von Unterkünften helfen, bei verstärkter Nachfrage „wenigstens gewisse Anstiege“ aufzufangen. Dabei könnten auch Absprachen mit öffentlichen Wohnungsgesellschaften helfen.
Experten für „atmendes System“
Koautor Julian Schlicht verwies darauf, wie wichtig das Datenmanagement zum existierenden Gebäudebestand sowie der Kontakt zu potenziellen Vermietern sei. Kühn ist ehemaliger Flüchtlings- und Integrationsbeauftragter der Stadt Mössingen bei Tübingen und forscht an der Universität Hildesheim. Schlicht ist Koordinator für „Hilfen für Geflüchtete“ im Landkreis Tübingen.
Die Autoren plädieren für ein „atmendes System“, um zumindest „kleine und mittelgroße Wellen“ abzufedern. Es sei aber weder finanziell darstellbar noch politisch vertretbar, Unterkünfte im großen Rahmen vorzuhalten. Notmaßnahmen seien auch in Zukunft nicht vermeidbar, „wenn sich die Ankunftszahlen binnen weniger Monate vervielfachen“.
Abbau von Kapazitäten führt zu Problemen
Weiter heißt es in der 26 Seiten umfassenden Expertise, basierend auf zahlreichen Interviews mit kommunalen Vertretern, viele Gemeinden und Städte seien mit der Aufnahme von Geflüchteten aktuell stark beansprucht. Allerdings sei die Frage nur schwer zu beantworten, ob Unterbringungskapazitäten aufgebraucht sind. Entscheidend für den Gestaltungsspielraum sei der politische Wille vor Ort, sagte Schlicht.
„Unsere Gesprächspartner in den Kommunen sehen zwar keinen Notstand, keine Überlastung – aber eine Belastung beziehungsweise eine Situation, die für die Verwaltung herausfordernd ist“, heißt es. Je aktiver eine Kommune vorgehe, desto besser gelinge es ihr, auch in Krisensituationen zügig neue Unterkünfte zu akquirieren. Kommunen, die nach 2015/2016 die „Strukturen der Integrationsarbeit und Flüchtlingsaufnahme“ nicht wieder abgebaut oder sogar weiterentwickelt haben, seien im vergangenen Jahr mit Ausbruch des Ukraine-Krieges besser auf die erneute Herausforderung eingestellt gewesen.
Bisheriges Verteilsystem führt zu Überlastung
Es seien allerdings nicht nur die hohen Zahlen der neu ankommenden Schutzsuchenden, „die das System unter Druck setzen“, sondern auch die Geflüchteten, „die schon lange im Aufnahmesystem sind und aufgrund des Wohnraummangels keine eigene Wohnung finden“, lautet ein Fazit.
Zudem habe die freie Wohnort-Wahl für Geflüchtete aus der Ukraine gezeigt, dass diese auch über private Kontakte Unterkünfte finden und damit das kommunale Aufnahmesystem entlasten. „Die Rekordzahlen Geflüchteter im Jahr 2022 waren nur dank dieser Freiheit und der Zivilgesellschaft zu bewältigen. Ein Festhalten am üblichen Verteilsystem hätte die Kommunen massiv überlastet“, schreiben die Autoren. (epd/mig) Aktuell Panorama
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