Exklusiv-Buchauszug
„Klimamigration“ – Die eigentlichen Herausforderungen für Europa
Die Auswirkungen des Klimawandels haben weltweit einen großen Einfluss auf Flucht und Migration. Warum für Europa die zentrale Herausforderung klimabedingter Migration nicht unbedingt in Millionen von „Klimaflüchtlingen“ aus Afrika oder Asien besteht, erläutert der Migrationsforscher Benjamin Schraven in seinem neuen Buch. MiGAZIN veröffentlicht exklusiv einen Auszug aus dem Buch.
Von Benjamin Schraven Donnerstag, 20.07.2023, 20:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 20.07.2023, 12:55 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Es mag überraschend klingen, aber die Forschung ist sich einig: Der Zusammenhang zwischen Klimawandel und Migration ist sehr komplex. Migration wird von sehr vielen Faktoren beeinflusst, und der Klimawandel ist meist nur einer davon. Es ist daher fast immer sehr schwierig festzustellen, welcher Faktor für eine Wanderungsbewegung nun der entscheidende oder hauptausschlaggebende war. Die meisten Menschen bewegen sich innerhalb von ihren Herkunftsländern oder zwischen Nachbarländern. Um größere Distanzen zu überwinden, fehlen den Hauptbetroffenen des Klimawandels schlichtweg die notwendigen Ressourcen. Apokalyptische Erwartungen eines zig-millionenfachen Ansturms von „Klimaflüchtlingen“ in Richtung Europa aus Afrika oder Teilen Asiens sind daher bis auf weiteres unwahrscheinlich.
Alles halb so schlimm?
Dies bedeutet nicht, dass die Auswirkungen des Klimawandels auf Migration und Flucht „schon nicht so schlimm“ ausfallen werden. Allein schon aufgrund des zu erwartenden Anstiegs des Meeresspiegels werden innerhalb der nächsten Jahrzehnte Millionen von Menschen weltweit ihre Heimstätten verlassen müssen. In diesem Zusammenhang wird das Thema der geplanten Umsiedlungen immer wichtiger werden. Allerdings müssen wir davon ausgehen, dass Flucht, Migration und Umsiedlungen sich auch zukünftig vor allem innerhalb der besonders vom Klimawandel betroffenen Länder und Weltregionen abspielen werden. Gerade Städte im globalen Süden müssen sich auf (mehr) klimabezogene Mobilität einstellen.
Aber schon heute sind städtische Infrastrukturen aufgrund von Bevölkerungszuwachs und den Auswirkungen des Klimawandels stark belastet. Die Europäische Union und europäische Regierungen müssen sich darauf einstellen, dass der Klimawandel in zunehmendem Maße auch in Europa selbst Migration und Umsiedlungen verursachen wird. Dafür muss – wie in anderen Weltregionen– analysiert werden, welche Menschen in welchen Gebieten besonders gefährdet sind und wie man diesen Menschen, kurz-, mittel- und langfristig helfen muss. Auf der anderen Seite wird eine leicht zu übersehende Folge des Klimawandels, nämlich die erzwungene Immobilität besonders armer und marginalisierter Bevölkerungsgruppen, sicherlich immer gravierender werden.
Es tut sich politisch was – zumindest ein wenig
Die Herausforderungen sind also gigantisch und das globale Flüchtlingssystem bzw. das internationale Recht bietet denjenigen, die sich im Zusammenhang mit der Klimakrise migrieren müssen), kaum Schutz. Trotz einiger grundsätzlich guter Ansatzpunkte besteht kaum Aussicht auf einen großen internationalen Durchbruch, der diesen Umstand schon bald ändern könnte. Dafür mangelt es wohl einfach am politischen Willen. Dennoch haben sich in den letzten Jahren etliche politische Prozesse etabliert, die vor allem auf der regionalen Ebene – etwa in Ostafrika oder in Teilen des Pazifiks – versuchen die komplexen Herausforderungen menschlicher Mobilität im Kontext des Klimawandels anzugehen. Die Komplexität dieser Herausforderungen erfordert differenzierte und kontextspezifische Antworten.
„Viele Menschen werden etwa Unterstützung bei der Umsiedlung benötigen. Nur wenige Regierungen sind bisher darauf vorbereitet.“
Diese Antworten lassen sich an den folgenden allgemeinen Leitsätzen ausrichten: Eine Verhinderung von Zwangsmigration (soweit dies möglich ist); eine Förderung des positiven Potenzials von Migration, welche grundsätzlich auch eine Anpassungsstrategie sein kann (zum Beispiel durch Rücküberweisungen); und die Anwendung menschenrechtsbasierter Strategien zur Sicherung menschenwürdiger Lebensbedingungen für Migranten, ihre Familien und vulnerable Bevölkerungsgruppen im Allgemeinen. Bis jetzt liegt ein Schwerpunkt von politischen Aktivitäten vor allem darauf, das Problembewusstsein für die Klimamigration zu schärfen, die Kompetenzen und Fähigkeiten von Entscheidungsträgerinnen und ‑trägern, mit den entsprechenden Herausforderungen umzugehen, zu verbessern sowie die Wissensgrundlagen zu den Zusammenhängen zwischen Klimawandel und menschlicher Mobilität zu erweitern.
Die Lösungen müssen weitreichender sein
Das bedeutet, dass hier zukünftig noch viel mehr passieren muss: Viele Menschen werden etwa Unterstützung bei der Umsiedlung benötigen. Nur wenige Regierungen sind bisher darauf vorbereitet. Vor allem die besonderen Gefährdungen und Bedürfnisse vulnerabler Bevölkerungsgruppen müssen stärker in den Fokus internationaler und nationaler Politik rücken, denn sie sind zum Teil extremen Risiken aufgrund der Folgen des Klimawandels ausgesetzt. Auf der einen Seite muss gerade die internationale Arbeitsmobilität stärker auf sie ausgerichtet werden. Einkünfte bzw. Remittances aus internationaler Mobilität, auch in weniger qualifizierten Berufen, haben das Potenzial, die Anpassung an den Klimawandel und den Klimaschutz in den Herkunftsländern entscheidend zu beeinflussen. Dazu muss es aber auch einen erleichterten Zugang für gefährdete Bevölkerungsgruppen zu diesen Arbeitsmärkten geben. Generell sollten weltweit regionale Freizügigkeitsabkommen weiter vorangetrieben werden, ebenso wie die Möglichkeiten etwa von humanitären Visa oder anderen humanitären Einreisemodellen. Auf der anderen Seite muss der Schutz von Menschen – und insbesondere Migrierenden und Geflüchteten – vor allem vor Ausbeutung dringend verbessert werden.
„Der wissenschaftliche Diskurs zum Thema Klimawandel und menschliche Mobilität wird immer noch sehr stark von Institutionen bzw. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des globalen Nordens bestimmt.“
Das positive Potential von Arbeitsmobilität für Klimaanpassung und nachhaltiger Entwicklung weltweit wird von ausbeuterischen Praktiken und generell schlechten Lebens- und Arbeitsbedingungen massiv gefährdet. Wenn es um die Bewältigung der großen Herausforderungen des Klimawandels und der menschlichen Mobilität für urbane Gebieten bzw. Zuzugsgebieten geht, gilt es, städtische oder kommunale Akteure besser in politische Entscheidungen auf nationaler und internationaler Ebene einzubinden und ihnen einen besseren Zugang zu finanziellen und technischen Ressourcen zu gewähren. Und das sind nur einige Dinge, die in den nächsten Jahren und Jahrzehnten unbedingt in Bewegung gesetzt werden müssen.
Europa in der Verantwortung
Europa steht in einer besonderen Verantwortung, sich bei diesen Herausforderungen zu engagieren, denn es ist Teil des globalen Nordens. Dieser hat einen Großteil der weltweiten Treibhausgasemissionen seit dem späten 18. Jahrhundert ausgestoßen und so den menschengemachten Klimawandel zum größten Teil verursacht. Zudem hat der globale Norden durch Kolonialismus und eine vor allem die reichen Industrieländer begünstigenden globalen Wirtschaftsordnung maßgeblich dazu beigetragen, dass vor allem Menschen im globalen Süden durch Überschwemmungen, Dürren und andere Folgen des Klimawandels gefährdet sind. Zugleich wird auch der wissenschaftliche Diskurs zum Thema Klimawandel und menschliche Mobilität immer noch sehr stark von Institutionen bzw. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern des globalen Nordens bestimmt.
Klimagerechtigkeit bzw. globale Gerechtigkeit sind gewichtige Argumente dafür, die Länder, Regionen und Gesellschaften des globalen Südens mehr zu unterstützen und – über Lippenbekenntnisse hinaus – zu einer tatsächlichen Zusammenarbeit auf Augenhöhe zu kommen. Aber es liegt auch im ureigensten Interesse Europas, dass Regionen in der europäischen Nachbarschaft bei der Bewältigung (nicht nur der mobilitätsbezogenen) Folgen des Klimawandels unterstützt werden. Denn der Klimawandel kann potenziell destabilisierend auf Länder und ganze Regionen wirken. Zwar führt der Klimawandel sicherlich nicht automatisch und überall zu mehr Konflikten und Krisen, aber das Risiko, dass dies vermehrt in mittel- oder unmittelbarer Nähe des „alten Kontinents“ passiert, sollten die europäischen Entscheidungsträgerinnen und ‑träger nicht einfach unbedarft aussitzen. Und auch wenn Migration und Umsiedlungen aufgrund von Klimafolgen innerhalb Europas für viele noch Zukunftsmusik zu sein scheinen, so müssen sich die Menschen in Europa nichtsdestotrotz darauf einstellen. Planung und Vorbereitung dafür sind eine enorme Aufgabe, über die besser bereits heute als morgen geredet werden muss.
Klimakrise und Migration als Megatrends des 21. Jahrhunderts
Für all dies bedarf es eines tiefgreifenden Problembewusstseins, dass nicht nur in der Klimapolitik oder Migrationspolitik (weiter‑) entwickelt werden muss, sondern auch in Bereichen wie Stadtplanung, Umweltpolitik oder Rechtspolitik – und das von der globalen Ebene bis zur Ebene der Kommunen. Politik und Gesellschaft wären gut beraten, eine insgesamt rationale und besonnene Einstellung zum Thema Migration zu entwickeln. Migration ist sicherlich kein umfassendes Allheilmittel für bestehende Probleme einer Gesellschaft. Zu diesen Problemen zählen in Deutschland und anderen Industrieländern nicht zuletzt die Herausforderungen, die eine immer älter werdenden Gesellschaft mit sich bringt – etwa der Fachkräftemangel oder die unsichere Zukunft des Rentensystems.
Klimakrise und Migration zwei der Megatrends und Megaherausforderungen des 21. Jahrhunderts.
Für die Menschen, die sich auf den Weg machen – oder machen müssen – sind bessere wirtschaftliche Perspektiven, eine Unterstützung von Verwandten in den Herkunftsländern, Schutz vor Repression, Konflikten und Instabilität oder eben die Erwartung, weniger den Auswirkungen des Klimawandels ausgeliefert zu sein, keine Selbstläufer. Die Erfahrungen von Ausgrenzung oder die schmerzhafte Trennung von Familien oder Freunden machen Migrierende und Geflüchtete weltweit. Entscheidend ist für alle Beteiligten daher der Wille, Mobilität so zu gestalten, dass negative Aspekte minimiert und positive Aspekte gefördert werden. Dafür braucht es allerdings einen kühlen Kopf und die Bereitschaft, Zuwanderung und Mobilität im Allgemeinen zu gestalten.
In anderen Worten: Geld und Energie müssen aufgebracht werden, um Migrierende und Geflüchtete, in die Lage zu versetzen, ihr Potenzial optimal einzusetzen. Letztendlich sind Klimakrise und Migration zwei der Megatrends und Megaherausforderungen des 21. Jahrhunderts, die nicht isoliert voneinander gedacht und angegangen werden sollten. Es ist zwingend erforderlich, Synergien zu nutzen.
Aktuell FeuilletonBenjamin Schraven
„Klimamigration“ – Wie die globale Erwärmung Flucht und Migration verursacht
3. Juli 2023, 176 Seiten, 27,00 €
ISBN: 978-3-8376-6547-5
Top-10-Platzierung in den MiGAZIN-Bestsellern in der 29. KW/2023
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Sehr geehrter Herr Dr. Schraven,
auf den Punkt treffen Sie in Ihrem Artikel meine zugegebenermaßen eurozentrischen Laienüberlegungen .
Aus diesem Grund ist Ihr Buch für mich interessant, um meine alten Überzeugungen wissenschaftlich zu untermauern.
Die Formulierung und das Kommunizieren von langfristigen Zielen in dieser Frage, gegenüber „Earthians“ und Politikern, ist meiner Meinung nach entscheidend, um Handlungspläne zu formulieren.
Allerdings ist das Ergebnis dieser Überzeugungsarbeit nach meiner Erfahrung nur schwer vorhersagbar.
Zu dieser Dystopie möchte ich erst zu Schluss kommen.
Zuerst erinnerte mich der Auszug Ihrer Arbeit an das Buch „Utopia for Realists“ von
Rutger Bregman, ohne das vergleichend oder bewertend zu meinen.
Ich sehe im Buch von Herr Bregman eine Ergänzung, um „Earthians“ Handlungsfähigkeit zu ermöglichen, durch die Bereitstellung von Kapital.
An dieser Stelle betone ich nochmals, dass mir meine eurozentrische Sichtweise bewusst ist.
Wie Sie Dr.Schraven anmerken, ist eine Kommunikation und Kooperation auf Augenhöhe zwischen uns „Earthians“ nötig.
Der Autor Bregman führt in seinem Buch die Fortschritte aus, welche bei der Bekämpfung von Hunger und Armut in den letzten Jahrzehnten geleistet wurden.
Ich möchte dies als Laie auch nicht in Frage stellen.
Allerdings ist bekannt, dass z.B. Nahrungsmittelsicherheit auch auf Kosten lokaler Agrar-Ökonomie, durch Verschuldung oder unfaire Handelsabkommen zustande kam.
Ich nannte meine alten Überzeugungen, welche aus einer Zeit vor des Bewusstseins des Klimawandels stammen.
Ab Mitte der 90er war mein Thema die ungerechte globale Wirtschaftsordnung, welche Sie auch ansprechen.
Ich behaupte, dass die Forderungen an die industrialisierten, meist kolonialistischen Täter-Länder dieser Erde, sich nicht unterscheiden, in der Frage nach Gerechtigkeit und zwingender Handlungsfähigkeit bei globaler Wirtschaftsordnung und Klimawandel-Folgen.
Ich appelliere, priorisieren sie nicht ihre Wohlstandssicherung vor Solidarität mit uns „Earthians“.
Kapital muss in weitere Teile unserer Erde fließen, beispielsweise durch Give Directly.
Befassen sie sich mit den Grenzen des Wirtschaftswachstums.
Überdenken sie, dass eine alternative Wertung von Arbeit und Leistung möglich ist.
Haben sie ein Herz und finanzieren sie ein basic income für die Bedürftigsten dieser Erde, statt selbst nach mehr zu fragen.
Komplexität ist deshalb der Richtige von Ihnen gewählte Begriff, um uns wach zu rütteln.
Noch ist nicht genau klar, welche „Earthians“ vom Klimawandel betroffen sein werden.
Die angekündigte Dystopie ist, dass „wir diese Bilder aushalten“.
In „eigener“ Sache, bin ich gegen die Instalation einer Asteroiden-Abwehr