„Idyll und Verbrechen“
Bergidyll und NS-Verbrechen – Dokumentation Obersalzberg eröffnet
Am Obersalzberg, inmitten der Berchtesgadener Bergidylle, empfing Hitler Gäste - und plante Kriege und Massenmord. Mit viel Prominenz ist nun an dem geschichtsträchtigen Ort nach mehrjähriger Bauzeit die neu gestaltete Dokumentation Obersalzberg eröffnet worden.
Von Sabine Dobel Donnerstag, 12.10.2023, 15:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 02.10.2023, 18:21 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Ein verwackelter Filmausschnitt zeigt eine Gesellschaft in fröhlicher Stimmung am Kaffeetisch vor wunderbarer Bergkulisse. Es sieht nach friedlicher Sommerfrische aus. Der Schein trügt. Adolf Hitler und seine Vertrauten machen hier nur eine Pause von ihren Vorbereitungen zum Überfall auf Polen. Am Obersalzberg bei Berchtesgaden plante Adolf Hitler Krieg und Massenmord – und hier wurden Propagandabilder geschaffen, die ihn als volksnahen „Führer“ inszenierten. „Idyll und Verbrechen“ ist der Titel der erweiterten Ausstellung an dem geschichtsträchtigen Ort, die nach sechsjähriger Bauzeit mit prominenten Gästen eröffnet wurde.
Ministerpräsident Markus Söder (CSU) und die Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern, Charlotte Knobloch, unterstrichen bei der Eröffnung die Bedeutung des Erinnerns. „Wir müssen fortwährend erinnern und mahnen, damit sich die Gräuel nie mehr wiederholen“, sagte Söder. Knobloch mahnte, die Zeit der Zeitzeugen gehe zu Ende. „Steinerne Zeugen“ würden immer wichtiger. „Es braucht Orte wie diesen.“ Das unterstrich auch Finanzminister Albert Füracker (CSU). Der Vorsitzende des Zentralrats Deutscher Sinti und Roma, Romani Rose, warnte vor zunehmender Demokratiefeindlichkeit in der Gesellschaft. Die Ausstellung zeige, mit welchen Mitteln die NS-Propaganda den „Mythos Hitler“ geschaffen habe.
Das Institut für Zeitgeschichte (IfZ) hat das Konzept der Schau mit gut 350 Exponaten und multimedialen Elementen entwickelt. Weil das 1999 installierte Doku-Zentrum mit deutlich mehr Besuchern als erwartet aus den Nähten platzte, wurde 2012 der Neubau beschlossen. Der teils in den Berg versenkte Neubau kostete gut 30 Millionen Euro.
Etwa ein Viertel seiner Regierungszeit verbrachte Hitler im Berghof als Zentrum des Führersperrgebiets, fünf Minuten von der heutigen Dokumentation entfernt. Die Schau schneidet hart gegeneinander: die vermeintlich heile Welt der Bergresidenz einerseits, Verfolgung, Leid und Tod andererseits. „Beides gehört untrennbar zusammen: Der schöne Schein und die Brutalität der NS-Diktatur“, sagt IfZ-Direktor Andreas Wirsching.
Geschichten von Unterdrückung und Verfolgung
Anhand von Einzelschicksalen erzählt die Ausstellung exemplarisch Geschichten von Unterdrückung und Verfolgung. Leni Riefenstahls Film „Tiefland“ zum Beispiel. Die Regisseurin spielt darin eine Betteltänzerin als romantisches „Zigeuner“-Klischee. Statisten holte sie sich aus dem Zwangslager für Sinti und Roma im Salzburger Stadtteil Maxglan. Die Familie Herzenberger etwa wurde vor die Kamera gezwungen – und später ermordet.
Geschickt nutzte die Propagandamaschine wiederum Sammelbildchen in Zigarettenschachteln. Die Bildchen zu Themengebieten wie „Deutschland erwacht“ und „Olympiade 1932“ wurden auf Schulhöfen getauscht – „eine perfide Art, den Nationalsozialismus bis in die Kinderzimmer zu bringen“, sagte der Leiter der Dokumentation, Sven Keller. Der Hitler-Kult umfasste auch Fan-Artikel wie Taschenspiegel oder Taschenmesser mit Hitlers Porträt.
Vom Täterort zu den Tatorten: Im Zentrum der Ausstellung, von allen Seiten durch Sichtachsen einsehbar und besonders hell ausgeleuchtet, sind exemplarisch fünf Orte beschrieben: Schloss Hartheim mit Morden an behinderten Menschen, Leningrad, die litauische Stadt Kaunas mit Massenerschießungen, Warschau, Treblinka und Auschwitz. Hier umgesetzte Verbrechen waren teils am Obersalzberg konzipiert worden.
Obersalzberg zieht auch Rechtsextreme an
Gerne zeigte sich Hitler in der Natur, mit Hunden und mit Kindern. Manches Bild, das wie ein zufälliger Schnappschuss wirkt, wird in der Ausstellung seziert: Was so leicht und unbedarft daherkommt, war haarklein inszeniert, teils retuschiert. An einem Medientisch können die Besucher Bilder selbst analysieren. Dieses etwa: Hitler legt wie beiläufig einem Mädchen im weißen Kleid die Hand auf die Schulter – und nutzt dabei, so wird erläutert, eine religiöse Segensgeste.
Besondere Faszination übt den Kuratoren zufolge der Bunker am Obersalzberg aus. Rund 6,5 Kilometer Stollen sind in den Berg gegraben. Etwa 500 Meter sind Teil der Ausstellung. Zu sehen sind Inschriften von italienischen Zwangsarbeitern, die den Bunker bauen mussten, Initialen dreier französischer Soldaten, die nach Kriegsende wohl als erste in die Anlage kamen – und der Schriftzug „KZler“ von Besuchern aus Lettland, die 1947 da waren – und wohl überlebt hatten.
Der Obersalzberg zieht immer wieder auch Rechtsextreme an – auch das zeigt die Ausstellung: Grabkerzen teils mit Hakenkreuzen, zu Hitlers Geburtstag am ehemaligen Berghof niedergelegt. Nach Kriegsende waren die Ruinen gesprengt worden. Damals habe man schnellwachsende Bäume gesät, um „Wald darüber wachsen zu lassen“, sagt Keller. Verbergen und absperren schüre aber nur die Mystifizierung. Gelegentlich zeigten sich auch „gesellschaftliche Selbstreinigungskräfte“: Manches Hakenkreuz sei schon entfernt, ehe man sich darum kümmern könne. (dpa/mig) Aktuell Feuilleton
Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.
MiGGLIED WERDEN- Fachkräftemangel vs. Abschiebung Pflegeheim wehrt sich gegen Ausweisung seiner Pfleger
- „Diskriminierend und rassistisch“ Thüringer Aktion will Bezahlkarte für Geflüchtete aushebeln
- Verwaltungsgerichtshof Nürnberg muss Allianz gegen rechts verlassen
- Ein Jahr Fachkräftegesetz Bundesregierung sieht Erfolg bei Einwanderung von…
- Brandenburg Flüchtlingsrat: Minister schürt Hass gegen Ausländer
- Chronisch überlastet Flüchtlingsunterkunft: Hamburg weiter auf Zelte angewiesen