Weniger Bootsüberfahrten
EU und Tunesien setzen Flüchtlingspakt doch um
Trotz einer angeblichen Rückzahlung von Mitteln zur „Migrationsabwehr“ arbeitet Tunesien mit der EU zusammen. Es kommen auch weniger Geflüchtete über das Mittelmeer an - Rückgang um Faktor sieben.
Von Matthias Monroy Mittwoch, 01.11.2023, 15:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 01.11.2023, 12:54 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Im Juni hat die EU-Kommission eine Vereinbarung zur gemeinsamen Migrationsabwehr mit Tunesien unterzeichnet. Die Regierung in Tunis erhält demnach 105 Millionen Euro zur Überwachung seiner Grenzen sowie zur „Bekämpfung des Menschenschmuggels“. Weitere 150 Millionen Euro sollten in den kommenden Jahren aus dem Außenpolitischen Instrument (NDICI) für die Zwecke „Grenzmanagement und Schmuggelbekämpfung“ fließen.
Eine erste Überweisung im Rahmen des Abkommens über 67 Millionen Euro erhielt Tunesien im September. Mit dem Geld sollten ein Küstenwachschiff, Ersatzteile und Schiffsbenzin für weitere Schiffe sowie Fahrzeuge für die tunesische Küstenwache und Marine finanziert werden, außerdem Ausbildungsmaßnahmen zur Bedienung der Ausrüstung. Rund 25 Millionen Euro dieser Tranche waren für Programme zur „freiwilligen Rückkehr“ vorgesehen, diese werden vom Flüchtlingshilfswerk der vereinten Nationen und der Internationalen Organisation für Migration umgesetzt.
Jedoch hat die Regierung in Tunis wenige Wochen nach der Überweisung aus Brüssel angeblich fast die gesamte Summe zurückgezahlt. Tunesien „nimmt nichts an, was Gnaden oder Almosen ähnelt“, wird der Präsident Kais Saied hierzu zitiert. Zuvor hatte die Regierung auch einen Arbeitsbesuch der Kommission zur Umsetzung der Vereinbarung abgesagt.
Erfolge auf Arbeitsebene
Trotz der vermeintlichen Kehrtwende ist die Zusammenarbeit zur Migrationsabwehr zwischen der EU und Tunesien aber in Gang gekommen und zeigt auf Arbeitsebene sogar erste Erfolge. Im Rahmen der Vereinbarung hat die EU etwa Ersatzteile für die tunesische Küstenwache geliefert, mit denen sechs Schiffe „einsatzbereit gehalten werden“. Das schrieb die Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen vergangene Woche an Abgeordnete des EU-Parlaments, die sich nach der Umsetzung des Deals erkundigt hatten. Weitere sechs Küstenwachschiffe sollen bis Ende des Jahres repariert werden.
In einem undatierten Schreiben an die EU-Mitgliedstaaten konkretisiert von der Leyen die Ausrüstungshilfe. Demnach seien bislang „IT-Ausrüstung für Einsatzräume, mobile Radarsysteme und Wärmebildkameras, Navigationsradare und Sonare“ an Tunesien gegeben worden. Ein „zusätzlicher Kapazitätsaufbau“ soll im Rahmen bestehender „Grenzverwaltungsprogramme“ erfolgen, die unter anderem von Italien und den Niederlanden durchgeführt werden. Eines davon ist das Programm EU4BorderSecurity, das unter anderem Kenntnisse zur Seenotrettung vermittelt und für Tunesien bis April 2025 verlängert wurde.
Von diesen Maßnahmen profitieren die zum Innenministerium gehörende Garde Nationale Maritime sowie die tunesische Seenotleitstelle. Dieses Maritime Rescue Coordination Centre (MRCC) erhielt bereits ein EU-finanziertes System zur Schiffsverfolgung und soll an das Netzwerk „Seepferdchen Mittelmeer“ angeschlossen werden. Darüber tauschen sich die EU-Staaten über Vorkommnisse vor ihren Küsten aus. Dieses Jahr hat Tunesien auch Angehörige seiner Küstenwachen als Verbindungsbeamte nach Italien entsandt – offenbar ein erster Schritt zu dem Ziel der EU, die MRCC’s in Libyen und Tunesien mit ihren „Pendants“ in Italien und Malta „verbinden“ will.
Abfahrten aus Tunesien gehen um Faktor sieben zurück
Seit der Unterzeichnung des Migrationsabkommens haben die Abfahrten von Booten mit Geflüchtete aus Tunesien nach Informationen des Migazin im Oktober um den Faktor 7 abgenommen. Der Grund dafür liegt vermutlich in der erhöhten Frequenz von Patrouillen der tunesischen Küstenwache. Im August sollen dabei 1.351 Menschen auf See aufgegriffen worden sein. Immer öfter werden die Boote nach dem Abfangen von den tunesischen Beamten auch zerstört. Für weniger Überfahrten sorgen vermutlich auch die Preise, die Flüchtende an Schleuser bezahlen müssen, diese sollen in Tunesien deutlich gestiegen sein.
Einen Anteil am Rückgang der Zahlen hat auch die staatliche Repression vor allem in der Hafenstadt Sfax, wo die Behörden tausende Menschen aus Subsahara-Staaten aus dem Zentrum vertrieben und diese mit Bussen an die libysche und algerische Grenze gefahren haben. Dort werden sie von den Beamten zum Grenzübertritt gezwungen. Diese Maßnahmen haben auch dazu geführt, dass mehr Flüchtende in Tunesien die von der EU finanzierten IOM-Programme zur „freiwilligen Rückkehr“ in ihre Herkunftstaaten nachfragen.
Nun will die EU Druck auf Tunesien ausüben, für einzelne westafrikanische Staaten eine Visumspflicht einzuführen. Dies soll unter anderem die Elfenbeinküste betreffen, von wo die meisten Menschen stammen, die über Tunesien in die EU gelangen und fast alle in Italien ankommen. An zweiter und dritter Stelle dieser Nationalitäten stehen Guinea sowie Tunesien.
Empfang vom Frontex-Direktor
Im September, drei Monate nach Unterzeichnung des Migrationsabkommens, hat eine Delegation aus Tunesien die Frontex-Zentrale in Warschau besucht, daran beteiligten sich das Innen-, Außen- und das Verteidigungsministerium. Der Besuch aus Tunis wurde vom Frontex-Direktor Hans Leijtens persönlich empfangen. EU-Beamte hielten anschließend Vorträge über die Fähigkeiten und Kapazitäten der Grenzagentur, darunter die Abteilung für Ausbildungsmaßnahmen oder das 2021 eingerichtete Abschiebezentrum, das auf eine gute Zusammenarbeit mit Zielstaaten von Abschiebeflügen angewiesen ist.
Briefings erfolgten auch zum grenzüberschreitenden Überwachungssystem EUROSUR und dem „Situation Centre“, wo alle Fäden aus der Überwachung mit Schiffen, Flugzeugen, Drohnen und Satelliten zusammenlaufen. Auch die bewaffnete „Ständige Reserve“ die Frontex seit 2021 aufbaut, wurde den Ministerien aus Tunesien vorgestellt. Diese werden auch in Drittstaaten eingesetzt, jedoch bislang nur in Europa auf dem Westbalkan.
Tunesien will über eine solche Entsendung von Frontex-Personal in sein Hoheitsgebiet jedoch weiterhin nicht verhandeln, ein hierfür nötiges Stationierungsabkommen ist damit in weiter Ferne. Auch ein Arbeitsabkommen zum erleichterten Informationsaustausch mit Frontex strebt die Regierung in Tunis derzeit nicht an. Schließlich schlug die tunesische Küstenwache auch ein Angebot aus, an einer Übung von europäischen Küstenwachen in Griechenland teilzunehmen.
Vorbild für Migrationsabwehr mit Ägypten
Die Beihilfe zur „Schleusung“ ist ein Delikt, für dessen Strafverfolgung in den EU-Staaten die Polizei zuständig ist. Betreffen diese Delikte zwei oder mehr EU-Staaten, kann Europol die Ermittlungen koordinieren. Auch dies soll nun mit Tunesien in Gang kommen: Im April hatte bereits die EU-Kommissarin Ylva Johansson Tunis besucht und eine „operative Partnerschaft zur Bekämpfung des Menschenschmuggels“ (ASOP) vereinbart, für die zusätzliche Mittel bereitgestellt werden. Für die Umsetzung dieser Polizeizusammenarbeit sind Italien, Spanien und Österreich zuständig.
Schließlich ist Tunesien auch eines der Länder, über das in Brüssel im „Mechanismus der operativen Koordinierung für die externe Dimension der Migration“ (MOCADEM) gesprochen wird. Diese Arbeitsgruppe haben die EU-Staaten vergangenen Jahr neu geschaffen, sie dient der politischen Bündelung von Maßnahmen gegenüber Drittstaaten von besonderem Interesse. In einer der jüngsten Sitzungen war auch das Migrationsabkommen Thema. Nach Vorbild Tunesiens könnte die EU eine solche Vereinbarung auch mit Ägypten abschließen. Hierzu sollen die EU-Regierungschefs nun eine Entscheidung treffen. (mig) Aktuell Politik
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