Populismus der Mitte
Die neue Dimension des Rassismus in Deutschland
Wir erleben gerade eine Zeitenwende im Asyl- und Migrations-Diskurs, ein konservatives Rollback, eine Wiederkehr der 90er Jahre. Ein gefährlicher Austausch zwischen „Obrigkeiten“ und denen da „unten“.
Von Heiko Kauffmann Dienstag, 21.11.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 21.11.2023, 11:31 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
„Flüchtlings-Ausgaben Bürgergeld: Der Große Kosten-Knall – Wer soll das bezahlen?“ (Bild v. 11.11.23); „Asyl-Report: Warum es so nicht weitergehen kann.“ (Superillu vom 9.11.23). Schlagzeilen wie diese beherrschen zurzeit die Asyl-Debatte. Sie sind das Echo auf Aussagen von Politikern, die Bürger bewusst oder fahrlässig in Unruhe versetzen und damit Vorurteile und Aggressionen auslösen. Kein Wort von Solidarität und Menschenwürde, von Integration, Flüchtlings-Schutz und völkerrechtlichen Verpflichtungen. Mit Schlagworten wie „Illegale“, „irreguläre Migration“, „Einwanderung in die Sozialsysteme“, „Überlastung“ u.a. wird zunächst die Sprache ideologisiert, dann folgen Denken und Handeln.
Weniger Geld, reduzierte Leistungen („bis auf Null“, Christian Lindner); beschleunigte Verfahren; mehr, schnellere und brutalere Abschiebungen; gewaltsame Zurückweisungen; „Schachern“ um die Obergrenze; Haftlager an den Außen-Grenzen; Auslagerung von Asylverfahren nach Afrika und in mögliche Drittstaaten; weiter: Tausendfaches Sterben-Lassen im Mittelmeer und vor den Toren Europas. Restriktionen über Restriktionen, immer drastischere Angriffe auf die Rechte von Geflüchteten, Schikanen ohne Ende – ein Deja-Vu der 90-er Jahre?
„Erleben wir gerade eine Zeitenwende auch im Asyl- und Migrations-Diskurs, ein konservatives Rollback, eine Wiederkehr der 90er Jahre?“
In der gegenwärtig erhitzten, von der extremen Rechten entfachten Asyl-Debatte zündeln „etablierte“ Politiker der Opposition und auch der Ampel-Regierung mit fragwürdigen und falschen Behauptungen. Ihre vermeintliche Hoffnung, damit die AfD kleinhalten und bei den Wählern punkten zu können, trägt zur weiteren Spaltung und Polarisierung der Gesellschaft bei. Es braut sich eine brandgefährliche rassistische Stimmung zusammen, in der Drohungen, Anschläge und Feindseligkeiten gegen Geflüchtete und ihre Unterkünfte erschreckend zunehmen. Die Gewaltmeldungen überschlagen sich: In den ersten drei Quartalen 2023 gab es 1.515 Angriffe auf Schutzsuchende und ihre Unterkünfte – nach der bereits sehr hohen Zahl von 1.371 registrierten Straftaten im gesamten Jahr 2022. Erleben wir gerade eine Zeitenwende auch im Asyl- und Migrations-Diskurs, ein konservatives Rollback, eine Wiederkehr der 90er Jahre?
Vor 30 Jahren führten eine stetig zunehmende politische und mediale Hetze gegen Geflüchtete zu tödlichen Anschlägen und Pogromen – Hoyerswerda, Mölln, Rostock…- und schließlich zur Zerstörung des Art. 16 GG, des Grundrechts auf Asyl.
Ausgerechnet die „Ampel“, die für „Fortschritt“, „Respekt“ und „gesellschaftlichen Zusammenhalt“ stehen wollte, stimmt in den populistischen Überbietungswettbewerb flüchtlingsfeindlicher Stimmungsmache ein, die ihrem humanitären und integrationsorientierten Anspruch zuwiderläuft.
„Die neuen Gesetzespläne fördern nicht den sozialen Frieden, sondern polarisieren die Gesellschaft.“
Die neuen Gesetzespläne fördern nicht den sozialen Frieden, sondern polarisieren die Gesellschaft. Sie helfen weder den stark belasteten Kommunen noch bestärken sie die ehrenamtlich engagierte Bürger, die in Städten und Gemeinden zu Tausenden für Integration, Teilhabe und ein alle bereicherndes Leben engagiert sind. Sie bestärken vielmehr rechtsextreme Scharfmacher, die mit ihren Rufen „Ausländer raus“ und „Deutschland den Deutschen“ beabsichtigen, dieses weltoffene und demokratische Land in einen autoritären Obrigkeitsstaat zurückzuführen.
Wie in den 90er Jahren – und auch nach 2015 – stellen sich Regierungs-Parteien und politisch Verantwortliche mehrheitlich nicht hinter die vielen Initiativen der demokratischen Zivilgesellschaft und stärken dieser den Rücken; vielmehr geben sie dem Druck medialer Hetze und zündelnder Politiker nach und spielen damit Rechtsextremisten, Rassisten und der AfD in die Karten.
„Keines der jetzt geplanten Gesetze, schon gar nicht die unverantwortliche Rhetorik geschichtsvergessener Politiker beendet auch nur ein einziges der sozialen und ökonomischen Probleme, die sie vorgeben zu lösen.“
Wenn man die oft hemmungslos und faktenfrei vorgetragenen Ressentiments a la Friedrich Merz, Carsten Linnemann, Jens Spahn und anderer verfolgt, kann einem Angst und Bange um unsere Demokratie und Rechtsstaatlichkeit werden. Aussagen wie die von Jens Spahn, man müsse „irreguläre Migrations-Bewegungen gegebenenfalls mit physischer Gewalt“ aufhalten, sind purer Rassismus und Wasser auf die Mühlen rechtsradikaler Akteure, die sich durch derartige Vorschläge bestätigt und ermutigt fühlen könnten.
Keines der jetzt geplanten Gesetze, schon gar nicht die unverantwortliche Rhetorik geschichtsvergessener Politiker beendet auch nur ein einziges der sozialen und ökonomischen Probleme, die sie vorgeben zu lösen.
„Was ‚Obrigkeiten‘, gesellschaftliche Autoritäten, was die Politik in Zeiten von Krisen und Unsicherheiten skandiert, kann ‚unten‘ in Gewalt eskalieren.“
Die Tiefpunkte der deutschen Geschichte lehren uns: was „Obrigkeiten“, gesellschaftliche Autoritäten, was die Politik in Zeiten von Krisen und Unsicherheiten skandiert, kann „unten“ in Gewalt eskalieren, wenn sich ihre Adressaten dadurch bestätigt und legitimiert fühlen, ihr rassistisches Tun mit „allen Mitteln“ durchzusetzen.
Statt die Ursachen von Missständen und Versäumnissen zu analysieren, sie zu benennen, zu bearbeiten und zu einer Lösung zu führen, wird der Focus auf vermeintliche „Sündenböcke“ gelenkt, Leidtragende von Verfolgung, Gewalt und existenzieller Not; sie werden – endlich im Zufluchtsland angekommen – erneut Opfer von Diskriminierung und Ausgrenzung.
Es ist nicht die Schuld der Flüchtlinge, dass wir zu wenig Kitaplätze haben, die Krankenhäuser voll sind und es kaum bezahlbare Wohnungen gibt. Es wird höchste Zeit, dass sich die Politik „ehrlich macht“, Fehler und Versäumnisse aufarbeitet und neue Prioritäten setzt, statt extremistischen Scharfmachern auf den Leim zu gehen.
Im Rahmen der Willkommenskultur 2015 waren vorausschauende Aufnahme- und Unterbringungs-Konzepte, Integrations- und Infrastrukturmaßnahmen geplant, die auch für neue Krisen vorgehalten werden sollten. Diese möglichen Verbesserungen wurden jedoch durch Seehofers restriktive Asylpakete und einen dramatisch inszenierten Stimmungswandel alsbald wieder verworfen.
„Je restriktiver und härter der Kurs gegen Flüchtlinge und Minderheiten ist, … desto mehr polarisiert sich die Gesellschaft, … umso mehr werden Rassismus und Antisemitismus gestärkt. „
Wissenschaftliche Untersuchungen und historische Erfahrungen belegen: je restriktiver und härter der Kurs gegen Flüchtlinge und Minderheiten ist, je diskriminierender Gesetze und je brutaler Abschiebungen werden, desto mehr polarisiert sich die Gesellschaft, umso mehr verschärfen sich Feindseligkeiten und Ablehnung gegen Geflüchtete und Minderheiten, umso mehr werden Rassismus und Antisemitismus gestärkt.
Das „Buhlen um rechts“ markiert eine lange Traditionslinie und Kontinuität politischer und medialer Hetze in Deutschland. Sie war immer schon Nährboden für feindselige Menschenbehandlung und reicht mit den NSU-Mordtaten, mit Hanau, Halle und vielen ungezählten, nicht benannten alltäglichen Angriffen auf Geflüchtete und Minderheiten bis in die Gegenwart.
„Rassismus in Deutschland ist noch längst nicht überwunden.“
Deutschland ist seit den 90er Jahren deswegen wiederholt von UN-Gremien kritisiert worden. Die jeweiligen Innenminister von Schily bis Seehofer haben diese Kritik und die Empfehlungen der Ausschüsse stets zurückgewiesen und auf der Lebenslüge beharrt, in Deutschland gäbe es keinen „staatlichen“, keinen institutionellen Rassismus.
Es ist zu begrüßen, dass die Bundesregierung anlässlich der jüngsten Überprüfung durch den UN-Menschenrechtsrat Versäumnisse und Probleme beim Schutz der Menschenrechte eingeräumt hat. „Rassismus sei in Deutschland lange heruntergespielt worden“, so die Beauftragte der Bundesregierung, Luise Amtsberg (9.11.23): Deutschland werde weiter gegen Rassismus, Antisemitismus, Antiziganismus und andere Formen von Ausgrenzung und Diskriminierung kämpfen.
Dieser Zusage stehen die jüngst beschlossenen Maßnahmen diametral entgegen, bei denen die Regierung eingesteht, „an die Grenze des rechtsstaatlich Zulässigen gegangen“ zu sein – so der Freidemokrat(!) und Justizminister(!) Marco Buschmann im Boulevardblatt ‚Bild am Sonntag‘ vom 29.10.2023.
Seine Aussage macht deutlich, dass Regierung und Abgeordnete sehr genau wissen, dass die geplanten Gesetze mit Menschenwürde und Flüchtlings-Schutz nicht vereinbar sind. Sie sind vielmehr ein Sammelsurium der Abwehr und Abschreckung zur Verhinderung der Inanspruchnahme des Asylrechts – in einer Grauzone zwischen (Völker-)Rechtsbruch und rassistisch unterfütterten Gesetzen.
Rassismus in Deutschland ist noch längst nicht überwunden; gerade die jüngsten Entwicklungen offenbaren die staatlichen Anteile daran und machen deutlich, dass Rassismus auch aus der Mitte der Gesellschaft und aus dem Geist von Gesetzen kommt.
„Institutioneller und individueller, staatlicher und alltäglicher Rassismus bedingen einander.“
Institutioneller und individueller, staatlicher und alltäglicher Rassismus bedingen einander. Maßnahmen wie die geplanten tragen zur weiteren Zermürbung, Stigmatisierung und Dehumanisierung von Flüchtlingen bei. Statt Rassismus zu fördern und in der Gesellschaft zu verfestigen, wäre vielmehr die Einsetzung einer Enquete-Kommission aus Politik, Wissenschaft und Zivilgesellschaft überfällig, um institutionellen und individuellen Rassismus in Deutschland zu untersuchen, zu analysieren und durch geeignete Maßnahmen zu überwinden.
Die Zivilgesellschaft spielt dabei die entscheidende Rolle, unsere Verfassung und die Menschenwürde zu schützen und ihre ganze Kraft darauf zu richten, dass Empathie, Mitmenschlichkeit und Solidarität über Ausgrenzung, Rassismus und Barbarei obsiegen! Meinung
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Ein weiterer – sehr guter – Artikel, der es notwendig macht, dass man (mal) wieder auf die Straße geht!
Diese Asyl“politik“ ist unerträglich – ich persönlich versuche mich – überall dort wo es geht – davon zu distanzieren.
Macht, Kraft und Ausdauer den Vernünftigen dieser Republik!
Martin Stenzel, Köln-Nippes
Die Selle der seit den 60er Jahren in und für Deutschland schaffenden Türken musste all die widerwärtig schrecklichen Ereignisse in Möll, Solingen, Köln, Keupstr., Ludwigshafen, Hanau, München, ………, ertragen und dann noch die NSU-Anschläge und Serienmorde über sich ergehn lassen und sich bei NSU 2.0, wo noch nicht einmal ermittelt wurde noch ordentlich vorführen lassen. Nach all diesen schrecklichen gegen die Türkische Community gerichtet Verbrechen fragen sich die in Deutschland lebenden Türken, was denn aufgrund der derzeitig schon die Zumutbarkeitsgrenze überschrittenen medialen sowie politischen Hetze wohl als nächstes geschehen wird. Die Frage, ob und wer dann die Verantwortung dafür übernehmen wird stellt schon keiner mehr.