AGG-Reform
Ein Bekenntnis für mehr Gerechtigkeit
Einerseits ernten Rechtsextreme einen seit dem Zweiten Weltkrieg lange nicht dagewesenes Maß an Zuspruch, andererseits haben wir europaweit eine der schwächsten Antidiskriminierungsgesetzgebungen. In dieser Gemengelage streiten wir für eine Reform des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes.
Von Bernhard Franke und Eva Maria Andrades Sonntag, 10.12.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 11.12.2023, 9:08 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Das Jahr 2023 ist in vielerlei Hinsicht ein besonders herausforderndes Jahr. Fortwährende globale Krisen und Konflikte, die Flucht und Vertreibung nach sich ziehen sowie die immer deutlich werdende Sichtbarkeit der Klimakrise und die Zuspitzung sozialer Ungleichheit, erfordern dringlichst unsere Aufmerksamkeit. Wir haben in Deutschland seit langem nicht so intensiv um die fundamentalen Menschenrechte von Geflüchteten, Menschen mit Behinderungen, Trans:personen und queeren Menschen gerungen wie in 2023.
Im Kontext der schrecklichen Ereignisse in Israel und Gaza sehen wir auch hier in unserer Mitte verheerende Auswirkungen auf unser Zusammenleben. Die Fallzahlen zu antisemitischen Vorfällen seit dem Überfall der Hamas am 7. Oktober sind unaufhörlich in die Höhe gegangen – laut der Recherche- und Meldestelle (RIAS) sind des 29 pro Tag. Jeden Tag erleben wir mindestens drei Fälle von antimuslimischem Rassismus, so die Meldezahlen von CLAIM – Allianz gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit. Aber auch die Fallzahlen mit Bezug zu Anti-Schwarzem Rassismus, Rassismus gegen Sinti:zze und Rom:nja sowie Homo- und Trans:feindlichkeit zeigen deutlich: Es fehlt Schutz vor Diskriminierung und Gewalt. Die Zahlen lassen das Ausmaß, welche Grund- und Menschenrechtsverletzungen tagtäglich in Deutschland stattfinden, erahnen.
Das Deutsche Institut für Integration und Migrationsforschung (DeZIM) hat in seinem aktuellen Rassismusmonitor „Rassismus und seine Symptome“ dargelegt, wie weit verbreitet Diskriminierung vor allem mit Bezug zu Rassismus ist. Schwarze Menschen sind am häufigsten von un/mittelbarer Diskriminierung betroffen. 40 Prozent der befragten muslimischen Männer und 40 Prozent der befragten asiatischen Männer und Frauen geben an, Rassismus vor allem im Kontakt mit Behörden zu erleben. 30 Prozent der muslimischen Frauen sind insbesondere von Rassismus im Gesundheitsbereich betroffen. Bei nicht rassistisch markierten Menschen wird Diskriminierung aufgrund des Geschlechts, Alters, Gewichts und Einkommens erlebt.
„Die Bundesregierung hatte sich als Fortschrittskoalition vor allem im Bereich Antidiskriminierung, Klima und soziale Rechte angekündigt… Bisher liegt aber nicht einmal ein Eckpunktepapier… vor.“
Die Ergebnisse und Entwicklungen der letzten Monate sind besorgniserregend vor dem Hintergrund, dass einerseits die rechtsextreme AfD und rechtsextreme Bewegungen in Deutschland ein seit dem Zweiten Weltkrieg lange nicht dagewesenes Maß an Zuspruch und Normalisierung bekommen und andererseits erwartbar in einem Land mit einer der europaweit schwächsten Antidiskriminierungsgesetzgebung. Das ist die Gemengelage, in der wir für eine Reform des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes, dem Antidiskriminierungsrecht Deutschlands, streiten.
Die Autor:innen:
Eva Maria Andrades ist Geschäftsführerin des Antidiskriminierungsverband Deutschland und Mitglied im Expert:innenrat „Antirassismus“.
Bernhard Franke war von 2018 bis 2022 kommissarischer Leiter der Antidiskriminierungsstelle des Bundes (ADS).
Die Bundesregierung hatte sich als Fortschrittskoalition vor allem im Bereich Antidiskriminierung, Klima und soziale Rechte angekündigt. Im Koalitionsvertrag hatten sich die Koalitionsparteien für die erstmalige Reform des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes (AGG) ausgesprochen. Bisher liegt aber nicht einmal ein Eckpunktepapier seitens des federführenden Bundesministeriums der Justiz vor.
Aber wir sehen die AGG-Reform auch verzahnt mit weiteren progressiven gesellschaftspolitischen Gesetzesvorhaben bzw. -reformen, wie etwa der Reform des Staatsangehörigkeitsrechts, dem Selbstbestimmungsgesetz sowie dem Partizipations- und Demokratiefördergesetz. Alles Vorhaben, die vielversprechend und längst fällig sind, aber derzeit drohen zu stagnieren oder keine wirklichen Verbesserungen für die Zielgruppen dieser Gesetzesvorhaben zu versprechen.
„Es fehlt der Ampel an Mut und Visionen für mehr Gerechtigkeit und Partizipation.“
Es fehlt der Ampel an Mut und Visionen für mehr Gerechtigkeit und Partizipation. Das AGG wurde vor Jahren geschaffen, um Diskriminierung zu bekämpfen, aber die Gesellschaft hat sich weiterentwickelt und es gibt mehr Erkenntnisse über gesellschaftliche Ausschlüsse. Die Welt um uns herum verändert sich ständig, und es ist an der Zeit, dass unsere Gesetze Schritt halten. Die Dringlichkeit einer umfassenden Reform liegt vor allem für die Antidiskriminierungsberatungsstellen, die tagtäglich mit dem AGG arbeiten, darin, dass Beratungsanfragen stetig zunehmend und das Gesetz sich in vielen Fällen als unwirksam erlebt wird. Die Reform ist aus Sicht von Expert:innen aus der Zivilgesellschaft, (Rechts)wissenschaft und Antidiskriminierungsberatungspraxis längst überfällig.
Diskriminierungsverbote sind wesentlicher Bestandteil internationaler Menschenrechtsübereinkommen, die Deutschland ratifiziert hat. Und auch das 2006 in Kraft getretene Allgemeine Gleichbehandlungsgesetz (AGG) hat das Ziel, Diskriminierungen aus bestimmten Gründen zu verhindern oder zu beseitigen. Keine Reform oder lediglich eine kleine Reform wären eine verpasste Chance seitens der Bundesregierung, endlich auch in Deutschland effektiven Schutz vor Diskriminierung für alle Betroffene in allen Lebensbereichen zu gewährleisten.
„Die Reform sollte nicht nur auf Arbeitgebende oder den privaten Dienstleistungssektor abzielen, sondern auch dazu dienen, das Bewusstsein in der Gesellschaft zu schärfen.“
Die Reform sollte nicht nur auf Arbeitgebende oder den privaten Dienstleistungssektor abzielen, sondern auch dazu dienen, das Bewusstsein in der Gesellschaft zu schärfen. In Zeiten, in denen die Rufe nach Gleichheit und Gerechtigkeit auch immer lauter werden, sollte ein wirksames Antidiskriminierungsgesetz nicht nur als rechtliche Maßnahme, sondern auch als menschenrechtliches Instrument für gesellschaftliche Aufklärung und Fortschritt betrachtet werden.
Wir als Zivilgesellschaft sind längst bereit für diesen Fortschritt und haben als Bündnis AGG Reform – Jetzt! 11 zentrale Forderungen zur AGG-Reform. Aus Sicht des Bündnisses muss eine Reform vor allem bestehende Schutz- und Umsetzungslücken des AGG schließen und den Diskriminierungsschutz auch auf staatliches Handeln ausweiten. Des Weiteren muss die Rechtsdurchsetzung für betroffene Menschen verbessert werden durch eine Verlängerung der Fristen zur Geltendmachung von Ansprüchen und durch Einführung einer Prozessstandschaft und eines Verbandsklagerechts.
Die Reform sollte nicht nur die Schwächen des bestehenden Systems beheben, sondern auch sicherstellen, dass es den Herausforderungen eines pluralen Deutschlands, das faktisch ein Einwanderungsland ist, und den damit einhergehenden Kämpfen um Anerkennung und Partizipation gewachsen ist. Mit einer umfassenden Reform des AGGs würde Deutschland ein starkes Bekenntnis für Menschenrechte und für eine plurale und offene Gesellschaft abgeben. Es wäre das richtige Bekenntnis zur richtigen Zeit. Aktuell Panorama
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