Nahost & Verantwortung
Die Dämonisierung von Muslimen
Seit dem Nahost-Krieg wird wieder die „Leitkultur“ bemüht. Ein Versuch, deutsche Schuld aufzuzwingen, Deutungshoheit herzustellen. Ein Plädoyer für ein neues, gemeinsames Verantwortungsbewusstsein.
Von Dr. Muhammad Sameer Murtaza Donnerstag, 14.12.2023, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 14.12.2023, 13:39 Uhr Lesedauer: 10 Minuten |
„Wie sollen neue Deutsche sich zum Thema Krieg in Nahost äußern? Viele haben Angst, etwas Falsches zu sagen. Was sollte man sagen, was besser nicht?“, fragte mich eine syrischstämmige Journalistin kürzlich.
Ob Habecks unterschwellige Botschaft, dass das Recht der muslimischen Minderheit auf Schutz vor Gewalt und Diskriminierung abhängig von ihrem Wohlverhalten ist, ob Steinmeiers Aufruf an arabischstämmige und muslimische Deutsche sich von der Hamas zu distanzieren oder die Stigmatisierung und Ausgrenzung muslimischer Mitbürger im CDU-Grundsatzprogramm als nicht dazugehörig, wenn sie sich nicht der deutschen Leitkultur unterwerfen; das gesellschaftliche Feindbild Muslime ist endgültig Teil der politischen Mitte geworden. Der eine Politiker vermag es bloß freundlicher auszudrücken als der andere. Alle diese Botschaften an die muslimische Minderheit im Land sind verfassungswidrig, da die deutsche Staatsbürgerschaft und die Grundrechte von Bürgern nicht an eine Leitkultur, Staatsräson oder artigem Verhalten gekoppelt sind, sondern an das Grundgesetz. Zudem sind sie Ausdruck einer Dämonisierung von Muslimen.
Deutschland ist ein Einwanderungsland. Inzwischen haben mehr als 28 Prozent der hierlebenden einen Migrationshintergrund. Im Schnitt sind sie jünger als die alteingesessene Bevölkerung. Folglich werden diese neuen Deutschen die Zukunft dieses Landes unwiderruflich ganz stark mitbestimmen.
„Deutschland ist das Land der Mörder und Täter sowie ihrer Nachfahren. Deutschland ist jenes Land, das durch den industriellen Massenmord mit der Zivilisation gebrochen hat. Wer bei diesen Zeilen Unbehagen und Widerstand empfindet, der kann nur allzu gut nachvollziehen, wie es den neuen Deutschen ergehen muss, denen diese Schuldgeschichte aufgezwungen wird.“
Zu den Widersprüchen Deutschlands gehört es, dass es aufgrund der demographischen Entwicklung Einwanderung braucht, damit der Lebensstandard erhalten bleiben kann und die Renten auch in Zukunft gesichert sind, aber Migranten zugleich nicht will. Woher die fehlenden Arbeitskräfte, insbesondere im Bereich der Pflege herkommen sollen, hierüber schweigt man sich aus. Daher schert man sich auch keine Gedanken darum, wie deutsche Narrative für die neuen Deutschen geweitet werden können, damit diese annehmbar werden. Stattdessen erwartet die alteingesessene und alternde Bevölkerung, dass die neuen Deutschen sie stillschweigend übernehmen. Deutschland ist das Land der Mörder und Täter sowie ihrer Nachfahren. Deutschland ist jenes Land, das durch den industriellen Massenmord mit der Zivilisation gebrochen hat. Wer bei diesen Zeilen Unbehagen und Widerstand empfindet, der kann nur allzu gut nachvollziehen, wie es den neuen Deutschen ergehen muss, denen diese Schuldgeschichte aufgezwungen wird. Sich dem zu verweigern, weil man damit nichts zu tun hat, ist nur allzumenschlich.
„Die Deutschen sollten ihre Schuld nicht anderen aufzwingen.“
Ob Mitbürger mit kroatischen, lateinamerikanischen oder arabischen Wurzeln, mit denen ich in den letzten Tagen gesprochen habe, niemand zeigt sich bereit, die Schuld der autochthonen deutschen Gesellschaft auf sich nehmen zu wollen. „Was haben ich oder meine Eltern und Großeltern damit zu tun?“, fragt ein Syrer zurück. „Die Deutschen sollten ihre Schuld nicht anderen aufzwingen“, ergänzt eine Kroatin. Und ein älterer Palästinenser, dessen Familie ihr Land im Westjordanland von israelischen Siedler weggenommen wurde, äußert verbittert: „Soll ich jetzt Israel auch noch gutheißen, weil es meiner Familie die materielle Existenz vernichtet hat, andernfalls bin ich Antisemit, wie es der Antisemitismusbeauftragter Klein kürzlich äußerte?“
Das provinzielle Denken vieler Deutscher und ihr Hang, alles schön in Definitionsschubladen zu packen, stößt sich an der Realität. Viele neue Deutsche sind nicht bereit, die hiesigen Narrative einfach so zu übernehmen und laut Grundgesetz besteht hierzu auch keine Verpflichtung.
„Die alten Narrative sollen nun verpflichtend gemacht werden. Hierzu gräbt man den alten Zombie einer ominösen Leitkultur aus. Dabei sind nicht einmal die alten Deutschen in der Lage, diese einheitlich zu definieren. „
Diesen Kontrollverlust spürt die autochthone Bevölkerung. Die alten Narrative sollen nun verpflichtend gemacht werden. Hierzu gräbt man den alten Zombie einer ominösen Leitkultur aus. Dabei sind nicht einmal die alten Deutschen in der Lage, diese einheitlich zu definieren. Es ist ein Kampf, den die alteingesessene Bevölkerung allein schon aus demographischen Gründen nicht gewinnen kann. Nur versteht sie das nicht.
„Wir sind keine Antisemiten, wir sehen Israel aber mit einem anderen Blick als die Deutschen. Nur weil wir aus Syrien kommen, heißt das nicht, dass wir genauso denken, wie das Asad-Regime und wir haben auch nicht Antisemitismus als Volkssport betrieben!“, erklärt mir eine säkulare Syrerin. Der deutsche Blick auf Israel speist sich aus dem Holocaust. Er ist geprägt durch Emotionen wie Schuld, Versagen, Schande und Scham. Israel wird als ewig verletzlich und bedroht betrachtet. Der Blick des Südens, also von Menschen aus Südamerika, Afrika oder Asien ist jedoch ein anderer. Sie kennen Israel als einen starken Staat, der die größte Militärmacht im Nahen Osten und zudem insgeheime eine Atommacht ist. Zu glauben, dass eine Terrorbande wie Hamas oder die Hisbollah jemals Israels Existenz gefährden könnte ist absurd. Genauso wenig hat die Al-Qaida jemals die Existenz der USA bedroht. Die arabischen Staaten sind militärisch schon lange nicht mehr in der Lage, Israel Paroli zu bieten und befinden sich in einem Entspannungsprozess mit dem ehemaligen Gegner. Und der Iran hat Israel zwar als Feindbild bitter nötig, würde aber niemals das Wagnis einer militärischen Konfrontation eingehen.
„Der Blick des Südens sieht vielmehr einen israelischen Staat, der über den Zeitraum von 56 Jahren Besatzung das Westjordanland mittels Siedlungsbau de facto annektiert hat.“
Der Blick des Südens sieht vielmehr einen israelischen Staat, der über den Zeitraum von 56 Jahren Besatzung das Westjordanland mittels Siedlungsbau de facto annektiert hat. Rund 700.000 Israelis leben heute in mehr als 200 Siedlungen im Westjordanland und Ost-Jerusalem. Ein zusammenhängendes Territorium für einen palästinensischen Staat ist damit zu einer Unmöglichkeit geworden. Ohnehin war es seit jeher die Politik Netanjahus, dass es mit ihm niemals einen palästinensischen Staat geben werde. Dennoch wird in Deutschland regelmäßig die Schuld am Scheitern der Zwei-Staaten-Lösung einseitig der palästinensischen Seite untergeschoben.
Unerwähnt bleibt, dass 2002 und abermals 2006 Saudi-Arabien im Namen von 22 arabischen Staaten Israel den Vorschlag unterbreitete, dass sie Israel anerkennen, wenn im Gegenzug die Gründung eines palästinensischen Staates in Gaza und Westbank mitsamt Ostjerusalem in den Grenzen von 1967 zugelassen wird. Die saudische Friedensinitiative wurde seitens Israels abgelehnt. Während 2011 die palästinensische Autonomiebehörde dem israelischen Verhandlungspartner das Angebot unterbreitete, alle israelischen Siedlungen in Ost-Jerusalem mit Ausnahme von Har Choma zu akzeptieren, das Rückkehrrecht der Palästinenser auf 100.000 Personen zu begrenzen, den Tempelberg aufzugeben und ihn unter internationale Aufsicht zu stellen sowie weite Teile Jerusalems an Israel abzutreten. Auch dies wurde abgelehnt. Wer einen Palästinenserstaat will, baut keine Siedlungen.
„Die Leitkultur ist der Versuch, Deutungshoheit durch Androhung von Repressalien herzustellen.“
Viele junge autochthone Deutsche, so meine Beobachtung, schließen sich dem südlichen Blick auf Israel an. Wir haben es hier also nicht nur mit einem narrativen Konflikt zwischen alten und neuen Deutschen, sondern auch mit einem Generationenkonflikt zu tun.
Die Leitkultur ist der Versuch, Deutungshoheit durch Androhung von Repressalien herzustellen. Diskurszwänge sind aber kein Zeichen einer lebendigen Demokratie.
Hierzulande begreift die alteingesessene Bevölkerung nicht, dass die Erzählung vom deutschen Zivilisationsbruch und der Verantwortung, die hieraus entsteht, in einer Einwanderungsgesellschaft so erzählt werden muss, dass sie Gemeinsinn schafft und zugleich den Blick des Südens ernstnimmt. Was alte und neue Deutsche aus dem Zivilisationsfall dieser Nation lernen können, ist der Grundsatz: „Wer Unrecht widerspruchslos hinnimmt, unterstützt es.“ Dies nimmt jeden deutschen Staatsbürger in die Pflicht. Und in der Wahrnehmung dieser Verantwortung wachsen gerade für einen deutschen Muslim zwei Erinnerungskulturen zusammen, die zuvor so unversöhnbar erschienen. Die Muslime nehmen weltweit Anteil am Trauma der Nakba, dies darf aber nicht dazu führen, dass Muslime den Konflikt als eine Auseinandersetzung zwischen Islam und Judentum missdeuten oder eine „Israelkritik“ betreiben, da solches im Grunde eine Kritik am Existenzrecht Israels selber ist. Was aber kritisiert werden darf, ist das Handeln der israelischen Regierung und der israelischen Besatzungsarmee sowie ihren fließenden Übergängen zur Siedlerbewegung.
„Zugleich können sich deutsche Muslime als Bürger der deutschen Verantwortung nicht entziehen.“
Zugleich können sich deutsche Muslime als Bürger der deutschen Verantwortung nicht entziehen. Der Holocaust, dem über sechs Millionen Juden zum Opfer fielen, und die Aktion T4, durch die 219.600 Roma, unzählige Zeugen Jehovas, Homosexuelle, psychisch Kranke und schwerbehinderte Menschen ermordet wurden, war ein Angriff auf die Würde aller Menschen. Auch diese Erinnerungskultur verpflichtet deutsche Muslime dazu a) zwischen den Handlungen der israelischen Regierung und dem Judentum zu differenzieren und b) zu einem ausgewogenen Engagement für den Frieden im Nahen Osten. Das bedeutet: Existenzrecht für Israel in gesicherten Grenzen und Existenzrecht für die Palästinenser in gesicherten Grenzen oder Existenzrecht für Israel in gesicherten Grenzen und volle Bürgerrechte für die Palästinenser in einem demokratischen, föderalen und säkularen israelischen Staat.
„Artikel 1 Grundgesetz. Dies ist die geschichtliche Kollektivverantwortung, der wir Deutschen auf ewig verpflichtet sind, ob nun alte oder neue.“
Beide Erinnerungskulturen kumulieren in der Verpflichtung, dass überall auf dem Globus, wo Menschen es erneut wagen, die Würde ihrer Mitmenschen anzutasten, weil sie das angeblich falsche Geschlecht, die angeblich falsche ethnische Herkunft, den angeblich falschen sozialen Status, die angeblich falsche Religion, Weltanschauung oder sexuelle Orientierung haben, ihre Stimme zu erheben – gemäß Artikel 1 des Grundgesetzes. Dies ist die geschichtliche Kollektivverantwortung, der wir Deutschen auf ewig verpflichtet sind, ob nun alte oder neue. Ausschwitz verpflichtet Deutschland wie kein anderes Land, für alle Ewigkeit, sich für die Menschenrechte aller einzusetzen. Ihre Achtung kennt keine Schonung, weder gegenüber Israelis noch gegenüber Palästinensern.
„Nur durch ein kompromissloses Eintreten für die Menschenrechte bleiben ihre Anwälte glaubwürdig.“
In der Praxis bedeutet dies, dass wir deutschen Muslime uns für den Schutz jüdischen Lebens in Deutschland, von Synagogen und jüdischen Einrichtungen stark machen. Es braucht keine „bio-deutschen“ Politiker, die uns hierzu aufrufen oder Loyalitätsbekundungen in Form von Distanzierungen einfordern. Vor allem nicht, wenn es diese bis heute nicht schaffen, von den Muslimen im Land als Mitbürger zu sprechen. Zugleich können wir von der deutschen Politik erwarten, dass sie die Einreise von Siedlern und der Import von Produkten aus den Siedlungen in die EU boykottiert wird, Geldkonten eingefroren und spürbarer Druck auf die israelische Regierung samt der erschreckend kontinuierliche Praxis des Siedlungsbaus ausübt wird. „Oder sind wir Palästinenser für euch keine Menschen?“, fragt mich ein Betroffener, der zugleich die Hamas ablehnt. Nur durch ein kompromissloses Eintreten für die Menschenrechte bleiben ihre Anwälte glaubwürdig.
Aber wie unterscheidet man legitime Kritik an der israelischen Politik von israelbezogenen Antisemitismus? Manchmal kommt ja Letzteres im Gewand von Ersterem daher. Der israelische Autor Natan Sharansky hat zur Unterscheidung zwischen Kritik und israelbezogenem Antisemitismus den sogenannten 3D-Test entwickelt.
„Wie sollen sich also die neuen Deutschen über den Krieg im Nahen Osten äußern?“
Das erste D ist der Test auf Dämonisierung. Diese liegt dann vor, wenn der Staat Israel mit dem Judentum gleichgesetzt wird und Teil eines jüdischen Kollektivs bzw. Körper dargestellt wird, dessen Ziel es sei, den Islam zu zerstören. Die Existenz Israels wird in dieser Denke als eine Landnahme verstanden, um die muslimischen Länder zu entzweien. Dämonisierung liegt auch vor, wenn die israelische Politik mit dem Nationalsozialismus gleichgesetzt wird. Das zweite D ist der Test auf Doppelstandards. Es muss genau hingesehen werden, ob Kritik an der israelischen Politik selektiv angewendet wird, während das Handeln palästinensischer Terrororganisationen verteidigt, entschuldigt oder gar nicht angesprochen wird. Das dritte D ist der Test auf Delegitimierung des israelischen Staates, wenn dieser als Fremdkörper oder westliche Kolonie dargestellt wird, derer sich die arabische Welt entledigen muss, indem dieser Körper zerstört wird.
Wie sollen sich also die neuen Deutschen über den Krieg im Nahen Osten äußern? Wir sollten es als verantwortungsvolle Bürger dieses Staates tun. Ob sie neue oder alte Deutsche sind, ob sie Juden, Christen oder Muslime sind, ob sie arabischstämmig oder deutschstämmig sind, interessiert dabei nicht. Als Bürger sind wir alle gleich und befinden uns auf Augenhöhe. Niemand ist ein Bürger 2. Klasse oder Untertan einer Mehrheit. Angst, ihr Grundrecht auf Meinungsfreiheit auszuüben, sollten Bürger niemals haben. Meinung
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Ein sehr guter Artikel!!! Danke dafür!