Care4Calais-Leiterin Hardman
„Das ist zweifellos die schlimmste Situation, die ich je miterlebt habe.“
Im französischen Calais harren Geflüchtete aus vielen Länder unter unmenschlichen Bedingungen aus. Care4Calais unterstützt die Menschen mit warmer Kleidung und Zelten. Die leitende Projektkoordinatorin Imogen Hardman berichtet im Gespräch, was sie dort erlebt, über Polizeigewalt und warum die Menschen im Stich gelassen werden – und vom Umgang mit Ukrainer:innen, der als Positivbeispiel für alle Geflüchteten gelten sollte.
Von Judith Büthe Donnerstag, 11.01.2024, 14:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Freitag, 12.01.2024, 10:32 Uhr Lesedauer: 15 Minuten |
Die Situation für Geflüchtete an den europäischen Außengrenzen wird von Politiker:innen des EU-Parlaments seit Jahren als „prekär“ und „nicht den rechtlichen Mindeststandards entsprechend“ beschrieben. Gleichzeitig erfahren Menschen auf der Flucht zunehmende Einschränkungen ihrer Grundrechte durch politische Entscheidungen. Das Recht auf Schutz und Humanität verliert immer mehr an Bedeutung.
Die politischen Kursänderungen und die verschärften Maßnahmen gegenüber Schutzsuchenden an den Außengrenzen, wie etwa zwischen Frankreich und dem Vereinigten Königreich, erwecken den Eindruck, dass ihr Hauptziel nicht die Fortschritte bei der Verbesserung der Gesamtsituation sind, sondern lediglich eine Verlagerung der Verantwortung über Ländergrenzen hinweg stattfindet.
Vor diesem Hintergrund sticht Care4Calais exemplarisch für viele Hilfsorganisationen im Norden Frankreichs hervor, indem sie sich für Solidarität als Antwort auf die aktuellen Herausforderungen entscheiden.
Im Gespräch mit der leitenden Projektkoordinatorin Imogen Hardman erfahren wir mehr über ihre Tätigkeit für die gemeinnützige Organisation. Im Fokus ihrer Arbeit steht die nordfranzösische Stadt Calais, in der sie gemeinsam mit vielen weiteren freiwilligen Helfer:innen wöchentlich Lebensmittelpakte und Hilfsgüter wie wetterfeste Kleidung, Schlafsäcke und Zelte verteilt. Sie beleuchtet die drängenden Herausforderungen und Widrigkeiten, mit denen sich Geflüchtete in der Region täglich konfrontiert sehen, und spricht über die mangelnde staatliche Unterstützung von Menschen auf beiden Seiten des Ärmelkanals.
Wie lange bist du bereits bei Care4Calais aktiv?
„Das ist zweifellos die schlimmste Situation, die ich je miterlebt habe.“
Imogen Hardman: Ich bin seit etwas mehr als zwei Jahren dabei. Dies ist mein dritter Winter in Calais, und das ist zweifellos die schlimmste Situation, die ich je miterlebt habe.
Welche Entwicklungen oder Veränderungen haben dazu geführt, dass sich die Situation in Calais verschärft hat, und was sind die wesentlichen Ursachen dafür?
Die Situation für Geflüchtete in und um Calais ist seit Jahren inakzeptabel und stellt eine große Herausforderung für die Betroffenen sowie die NGOs dar. Der Grund, warum unser Verein aktuell mehr zu tun hat, liegt an der steigenden Anzahl von Menschen, die auf unsere Unterstützung angewiesen sind. Im Vergleich zu den vergangenen Wintern, in denen ich hier in Frankreich im Einsatz war, betreuen wir derzeit etwa 2.000 Menschen. Im letzten Winter waren es etwa 800 Personen. Die Nachfrage ist extrem, was bedeutet, dass der Bedarf an Spenden und entsprechenden Vorräten wie Winterjacken, Schuhen und wasserfester Kleidung viel größer ist als zuvor. Hinzu kommen die widrigen Wetterbedingungen. Über die vergangenen Monate hinweg gab es viele schwere Stürme, zahlreiche Regentage und Starkregen sowie viel Wind. Dies führte dazu, dass die „Schutzausrüstung“ der Menschen beschädigt oder zerstört wurde.
Wir verzeichnen eine hohe Nachfrage nach Zelten und Schlafsäcken, da regelmäßig Räumungen durch die Polizei stattfinden, bei denen viele Hilfsgüter zerstört werden. Alle 48 Stunden sucht die Polizei die einzelnen Camps um Calais und Dünkirchen auf und führt eine Räumung nach der anderen durch. Wenn jemand ein Zelt zurückgelassen hat, wird es beschlagnahmt. Wenn jemand eine Tasche liegen gelassen hat, wird sie entsorgt. Kürzlich berichteten mir syrische Männer, dass die Polizei jeden Tag zu dem Ort kommt, an dem sie ihr provisorisches Camp aufgeschlagen haben und ihre Sachen mitnimmt – jeden Tag. Das beschäftigt uns natürlich. Solche Praktiken sind absolut inakzeptabel und inhuman.
Gibt es keine staatlichen Unterkünfte?
Nein, es gibt keine staatlichen Unterkünfte. Selbst während der schlimmen Stürme, die erst kürzlich über diese Region gezogen sind, hat man nicht reagiert. Die Menschen waren diesen extremen Wetterereignissen schutzlos ausgesetzt.
„Wir arbeiten mit Menschen, die sehr viel Angst haben, besorgt sind, einen langen Weg hinter sich haben und nicht wissen, was morgen sein wir.“
Und dann haben wir leider Menschen, die bei dem Versuch in die UK zu fliehen, ertrinken. Wir arbeiten mit Menschen, das darf man nicht vergessen. Mit Menschen, die sehr viel Angst haben, besorgt sind, einen langen Weg hinter sich haben und nicht wissen, was morgen sein wird. Und es gibt weiterhin keinen sicheren und legalen Weg für sie. Das ist eine Art anhaltender Sturm, eine wirklich schwierige und kritische Situation, die gerade Ausmaße annimmt, die wir so noch nie gesehen haben.
Aus welchen Regionen bzw. Ländern stammen die Menschen, die Nordfrankreich aktuell erreichen?
In den letzten Monaten haben wir einen Anstieg von Sudanes:innen verzeichnet, die hauptsächlich aus Khartum stammen, der Hauptstadt Sudans, in der seit nunmehr sieben Monaten ein furchtbarer Krieg herrscht. Gleichzeitig kommen auch wieder mehr Afghan:innen, Iraker:innen und Iraner:innen, während die Zahl der Geflüchteten aus Syrien rückläufig ist. Das, was wir hier sehen, spiegelt ganz gut die aktuellen globalen Konflikte und Kriege wider.
Kannst du in Bezug auf die Räumungen durch die Polizei eine Veränderung in Intensität oder Vorgehen feststellen?
Diese regelmäßigen Räumungen begannen vor 18 bis 24 Monaten und setzen sich seitdem konsequent fort. Es gibt zudem groß angelegte Massenräumungen von allen Camps zwischen Dünkirchen und Calais. Das haben wir zuletzt vor zwei Wochen wieder erlebt – die Polizei hat zeitgleich verschiedene Plätze aufgesucht. Sie haben einfach alles mitgenommen bzw. zerstört. Die Camps werden buchstäblich dem Erdboden gleich gemacht. Die Menschen wurden anschließend in Busse gesetzt und auf Asylzentren in ganz Frankreich verteilt.
Einige der Personen aus Communitys, die wir regelmäßig unterstützen, teilten uns mit, dass sie nach Marseille gebracht wurden. Sie sind bis heute nicht zurück, weil sie nicht wissen, wie sie von dort aus zurückkommen. Die Räumungen sind äußerst gewaltsam, auch hier gibt es eine Steigerung. Die Polizei geht mit Tränengas bewaffnet auf Geflüchtete los. Sie erscheinen in voller Schutzausrüstung und treten äußerst aggressiv auf. Diese Erfahrungen sind retraumatisierend für Menschen, die aus Konfliktsituationen auf der ganzen Welt geflohen sind und keinerlei Schutz genießen.
Wie ist das Verhältnis zwischen den freiwilligen Helfer:innen der NGOs und der Polizei?
„Wir beobachten also eine zunehmende Abnahme der Akzeptanz gegenüber Geflüchteten und uns NGOs.“
Was wir erleben, ist immenser Druck und eine zunehmende Ablehnung gegenüber uns NGOs. Dabei sind viele französische und britische Organisationen ehrenamtlich rund um die Uhr aktiv und leisten Arbeit, die eigentlich nicht ihre Aufgabe sein sollte. Wir werden immer wieder daran gehindert, Hilfsgüter an Geflüchtete zu verteilen. Zuletzt wurden britische Freiwillige, die mit der Organisation „Human Rights Observers“ unterwegs waren, festgenommen, weil sie keinen Reisepass dabei hatten. Dabei haben sie einen anderen Lichtbildausweis mit sich geführt und konnten sich ausweisen. Sie wurden dennoch 24 Stunden auf der Wache festgehalten, obwohl ihre Reisepässe zwischenzeitlich von Dritten nachgereicht wurden. Wir beobachten also eine zunehmende Abnahme der Akzeptanz gegenüber Geflüchteten und uns NGOs. Zeitgleich steigt die Zahl der Menschen, die dringend Hilfe benötigen.
In den Medien hört man vermehrt von „Krisen“ und „Katastrophen“ im Zusammenhang mit flüchtenden Menschen. Wie denkst du, beeinflusst dies die Wahrnehmung in der Bevölkerung und die politische Landschaft?
„Menschen, die zur Flucht gezwungen sind, lassen sich nicht aufhalten. Das Risiko wird für sie größer, aber das hält sie keineswegs ab! „
Ich kann dieser Beobachtung nur zustimmen. Aus unserer Sicht als NGO aus dem Vereinigten Königreich, richten wir unseren Fokus auf die politische Debatte im eigenen Land. Die britische Regierung konzentriert sich ausschließlich darauf, Überfahrten über den Ärmelkanal mit allen Mitteln zu stoppen. Es gibt viele abschreckende Maßnahmen, die zutiefst unmenschlich sind und oftmals rechtswidrig ergriffen werden, um Geflüchtete davon abzuhalten, in die UK zu kommen. Unsere Argumentation bleibt, dass diese abschreckenden und inhumanen Maßnahmen nicht funktionieren. Menschen, die zur Flucht gezwungen sind, lassen sich davon nicht aufhalten. Das Risiko wird für sie größer, aber das hält sie keineswegs davon ab! Eine einfache und langfristige Lösung wären sichere Fluchtwege. Die Personen, die kürzlich im Ärmelkanal ertrunken sind, hätten nicht in dieses Schlauchboot steigen müssen, wenn wir ein sicheres Durchreisesystem schaffen würden. Das Vereinigte Königreich hat ein solches System für die Ukraine eingeführt – und es hat funktioniert! Wir konnten schnell und sicher Unterkünfte für Ukrainer:innen bereitstellen. Es funktioniert also, wenn es gewollt ist.
Um auf deine Frage zurückzukommen: Ich denke, es gibt eine bewusst gewählte mediale Aufbereitung – nicht erst seit gestern. Eine Erzählung, die immer weiter dem Muster der Entmenschlichung folgt und nicht akzeptabel ist. Das spielt eine große Rolle bei alldem, wie sich das Verhältnis unter den Menschen entwickelt. Es soll erreicht werden, dass den Menschen endgültig ihr Gesicht genommen wird.
Ihre Schicksale und Geschichten interessieren dann nicht mehr, in den Vordergrund rücken Zahlen und Ängste. Den Menschen, die eigentlich Schutz und Anerkennung in sicheren Ländern suchen, wird so Menschlichkeit und Individualität genommen.
Mit Blick auf die aktuelle Situation in der Region um Calais: Wie hat sich der Bedarf an medizinischer Versorgung unter den Geflüchteten entwickelt?
„Wir beobachten eine zunehmende Polizeigewalt gegenüber Geflüchteten.“
Wir beobachten eine zunehmende Polizeigewalt gegenüber Geflüchteten. Jede:r, den/die du hier triffst, hat eine Geschichte zu erzählen. Wir sehen Verbrennungen und Verätzungen durch den Einsatz von Tränengas aus kurzer Entfernung und Verletzungen durch physische Übergriffe.
Die Menschen, von denen wir hier sprechen, haben bereits Flucht hinter sich, und vor ihnen liegt noch ein lebensgefährlicher Weg – sei es über den Ärmelkanal oder auf der Ladefläche irgendeines Lastwagens. Sie tragen oftmals schweren Verletzungen von diversen Fluchtversuchen davon. Glücklicherweise gibt es auch Organisationen, die hier ehrenamtlich medizinische Versorgung leisten. Sie behandeln entsprechende Verletzungen, aber auch Krankheiten, die durch die unhygienischen Gegebenheiten entstehen, in denen die Menschen notgedrungen leben. Krätze ist beispielsweise ein großes Problem. Um dieser schweren Hautkrankheit entgegenzuwirken, würde man einen vollständigen Satz sauberer Kleidung benötigen und einen sauberen Wohnraum, außerdem fließend Wasser. All das ist nicht gegeben. Und auch hier gilt: Je mehr Menschen in diesen menschenunwürdigen Zuständen zusammenkommen und leben müssen, desto schlimmer werden die Bedingungen für sie.
Welche Art von Unterstützung benötigt Care4Calais am dringendsten, welche Ressourcen werden aktuell am meisten gebraucht?
„Sie tragen ihre Schuhe ununterbrochen, weil sie befürchten, dass die Polizei in der Nacht auftaucht und sie aus den Camps jagt.“
Care4Calais konzentriert sich darauf, Kleidung, Zelte und Schlafsäcke bereitzustellen. Um den Winter in Calais zu überstehen, benötigt man warme und wasserdichte Kleidung. Gutes Schuhwerk ist ebenfalls etwas, woran es mangelt. Die Menschen hier verbringen ihre Tage damit, zu Fuß von Verteilung zu Verteilung zu laufen. Und sie leben nun mal draußen, im Freien. Befreundete Freiwillige anderer NGOs berichteten uns von einem Gespräch mit einer Gruppe Geflüchteter, die mit ihren Schuhen an den Füßen schlafen. Sie tragen ihre Schuhe ununterbrochen, weil sie befürchten, dass die Polizei in der Nacht auftaucht und sie aus den Camps jagt. Grundsätzlich kann man sagen, dass Dinge benötigt werden, die Menschen warmhalten. Und natürlich Schlafsäcke und Zelte, denn das ist wirklich das Einzige, was die Menschen in gewissem Maße ‚schützt‘.
Wie würdest du die Ausrichtung von Care4Calais beschreiben? Konzentriert ihr euch ausschließlich auf humanitäres Engagement, oder spielt auch eine politische Komponente eine Rolle in eurer Arbeit?
Als britische Organisation konzentrieren wir uns stark auf das politische Geschehen in der UK und sind davon überzeugt, dass wir dort den größten Einfluss ausüben können. Es gibt viele Organisationen in der UK, die mit Asylsuchenden kooperieren, jedoch wenige, die auch auf dieser Seite des Ärmelkanals aktiv sind.
Es gibt außerdem ein Team von uns in der UK, das mit einem Zusammenschluss von Anwält:innen zusammenarbeitet, um den Diskurs dort zu führen und Missstände als solche zu benennen und anzuklagen.
Care4Calais arbeitet so eng wie möglich mit anderen Organisationen zusammen, die wie wir versuchen, die Sprache und Medienlandschaft zu beeinflussen. Ich denke, im Vereinigten Königreich ist das – angesichts der feindseligen Politik gegen Schutzsuchende der konservativen Regierung – besonders wichtig. Gerade deshalb müssen wir unsere Stimme erheben – auf der britischen und französischen Seite des Ärmelkanals.
Einige hundert Geflüchtete harren seit Monaten auf der Bibi Stockholm, einem sogenannten „Wohnschiff“ in der UK aus. Diese Wohnplattform wurde schon einmal in den 1990er Jahren in Hamburg als Unterbringung für Geflüchtete genutzt. Was kannst du hierzu berichten?
„Sie wollen Asylsuchende nicht sicher unterbringen und dementsprechend verschärft sich die Situation für sie kontinuierlich.“
Wir beobachten die Bibi mit Sorge, wie auch die Wethersfield-Kaserne, eine Militärkaserne in Braintree. Diese beiden Einrichtungen sind völlig ungeeignet für die Unterbringung von Menschen. Das ist dem Innenministerium auch bekannt, sie machen es trotzdem. Auf der Bibi Stockholm kam es im August zu einem Ausbruch von Legionellen, einer extrem ansteckenden bakteriellen Krankheit. Dennoch gab es kein Aufschrei, keine weiteren Untersuchungen, um zu klären, wie es dazu kommen konnte. Da zeigt sich das Versagen des Innenministeriums. Sie schaffen es nicht bzw. wollen Asylsuchende nicht sicher unterbringen und dementsprechend verschärft sich die Situation für sie kontinuierlich.
Vor kurzem, hat sich ein junger Mann auf der Bibi umgebracht – eine direkte Folge der schrecklichen und inhumanen Unterbringung auf dieser schwimmenden Wohnplattform. Wir haben als Organisation eine rechtliche Klage gegen das britische Innenministerium eingereicht. Diese Klage basiert auf der rechtswidrigen Inhaftierung von Asylsuchenden. Das britische Innenministerium hat eigentlich eine Reihe von Eignungskriterien, die festlegen, wie Asylsuchende untergebracht werden müssen: Der Fokus liegt hier besonders auf Geflüchteten mit psychischen Problemen oder Traumata aufgrund von Menschenhandel, Sklaverei oder Folter. Das trifft auf den Großteil der Menschen, die geflohen sind zu, und dennoch wird jede Vorschrift seitens der Regierung missachtet und gegen eigene Gesetze gehandelt, z.B. bei der Unterbringung.
Welche Verbesserungen oder Änderungen der EU-Grenzpolitik hältst du für notwendig, um die Situation für Geflüchtete zu verbessern?
Sichere Fluchtwege und humanitäre Visa für die Einreise von schutzsuchenden Menschen in die UK.
„Es gab Ukrainer:innen… Sie wurden übergangsweise in einem Hotel in Calais untergebracht. Sie waren nicht gezwungen, die Überfahrt über den Ärmelkanal in seeuntauglichen Booten zu versuchen, weil sie zuvor ihre Visa beantragen konnten. Ihnen wurde freie Fahrt mit dem Eurostar von Paris nach Großbritannien gewährt. „
Mit Blick auf den Krieg in der Ukraine und die Situation der Geflüchteten hat man ein konkretes Beispiel dafür, wie es gelingen kann. Es gab Ukrainer:innen, die im März 2022, nicht mal einen Monat nach dem Beginn des Krieges in ihrer Heimat, nach Calais kamen. Ich habe einige von ihnen kennengelernt und mich mit ihnen ausgetauscht: Sie wurden übergangsweise in einem Hotel in Calais untergebracht. Sie waren nicht gezwungen, die Überfahrt über den Ärmelkanal in seeuntauglichen Booten zu versuchen, weil sie zuvor ihre Visa beantragen konnten. Ihnen wurde freie Fahrt mit dem Eurostar von Paris nach Großbritannien gewährt. Und genauso sollten Menschen, die vor Krieg und Verfolgung fliehen, behandelt werden. Das war der perfekte und zugleich menschlichste Weg. Es müsste ein System etabliert werden, das es Menschen ermöglicht, in ihren Herkunftsländern ein Visum zu beantragen. Wenn das nicht möglich ist, z. B. aus Sicherheitsgründen, sollte es im nächsten Land ermöglicht werden. Dies wäre nicht nur sicherer für die Menschen, die Schutz suchen, sondern würde auch über Nacht das Geschäft der Schleuser mit Menschenleben beenden.
Wenn jemand ein Visum beantragt und ihm gesagt wird, „Nein, Sie haben keine Chance auf Asyl in Großbritannien“, würde niemand diese gefährliche Überfahrt antreten – ganz sicher nicht. Niemand würde sein Leben riskieren, um in die UK zu gelangen, ohne die Möglichkeit dauerhaft bleiben zu können. Das Vereinigte Königreich akzeptiert ungefähr 75 Prozent aller gestellten Asylanträge. Damit sind konkret Menschen gemeint, die auf dem Ärmelkanal zuvor ihr Leben riskiert haben. Das sind am Ende – selbst für das Asylsystem der UK Regierung – „echte Geflüchtete“, die demnach anerkannt werden. Warum also nimmt man in Kauf, dass sie zuvor auf der Flucht ertrinken, wenn man doch weiß, dass ein Großteil der Personen asylberechtigt sind? Das zu ändern, wäre ein erster wichtiger Schritt. In der Folge bräuchte es uns Freiwillige dann nicht mehr. Care4Calais sowie all die anderen NGOs hier könnten von heute auf morgen schließen. Es gäbe niemanden, der in Nordfrankreich unter diesen unmenschlichen Bedingungen weiterhin ausharren müsste.
„Verantwortlich dafür sind die Regierung und die Medien. Sie haben bewusst die Vorstellung geschaffen, das Land würde von Geflüchteten überflutet.“
Für die Menschen, die die UK erreicht haben, braucht es definitiv eine schnellere Bearbeitung ihrer Anträge und ein allgemein funktionierendes und effektives Asylsystem. Weshalb ich das sage? Wir sehen Menschen, die jahrelang in irgendwelchen umfunktionierten Hotels feststecken, die ihr Leben nicht weiterleben können; sie kommen keinen Schritt voran und können dann logischerweise auch keine Steuern in das britische System zahlen – natürlich nicht. Wie auch, wenn sie nicht einmal arbeiten dürfen? Die Regierung untergräbt aktiv das eigene Asylsystem und betont zur gleichen Zeit vehement, dass sie mit der „Masse an Menschen“, die ins Land kommen, überfordert sind.
Im Vergleich zu Ländern wie Frankreich, Deutschland und Italien nehmen sie aber deutlich weniger Menschen auf. Insgesamt sind es gerade einmal 7 Prozent, die das Vereinigte Königreich im Vergleich zum Rest Europas aufnimmt – und das ist bei der Größe und dem Wohlstand des Landes äußerst wenig. Verantwortlich dafür sind die Regierung und die einschlägigen Medien. Sie haben bewusst die Vorstellung geschaffen, das Land würde von Geflüchteten überflutet – und das ist aufgegangen. Dieses Narrativ wird aufrechterhalten, und sowohl die Regierung als auch ein beträchtlicher Teil der Medien nutzen es, um Hass und Ablehnung gegenüber Geflüchteten zu verstärken. Aktuell Interview Panorama
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