„Rechter Kampfbegriff“
„Remigration“ ist Unwort des Jahres 2023
Die Jury sieht darin eine „beschönigende Tarnvokabel“, mit der Rechtsextreme ihre Absichten verschleiern wollen, nämlich Massendeportationen von Menschen mit Migrationsgeschichte. Das „Unwort des Jahres“ 2023 könnte kaum aktueller sein.
Von Christine Schultze und Anne-Béatrice Clasmann Montag, 15.01.2024, 20:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 16.01.2024, 9:38 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
„Remigration“ ist das „Unwort des Jahres“ 2023. Das Wort sei ein „rechter Kampfbegriff“ und eine „beschönigende Tarnvokabel“, erklärte die Sprachwissenschaftlerin und Jury-Sprecherin Constanze Spieß am Montag in Marburg. Es werde von rechten Parteien und rechtsextremen Gruppen „für die Forderung nach Zwangsausweisung bis hin zu Massendeportationen von Menschen mit Migrationsgeschichte“ verwendet.
Angesichts der Debatten um die Strategien der AfD ist diese „Unwort“-Wahl hochaktuell – auch wenn der Begriff selbst nicht neu ist, wie Spieß deutlich macht. Der ursprünglich aus der Migrations- und Exilforschung stammende Begriff, der vom lateinischen Wort „remigrare“ für „zurückwandern“ stehe, werde „bewusst ideologisch vereinnahmt“ und umgedeutet, um eine menschenunwürdige Abschiebe- und Deportationspraxis zu verschleiern, erläutert die Jury.
Bundesweit für Schlagzeilen sorgt der Begriff seit vergangener Woche im Zusammenhang mit einem Treffen radikaler Rechter in Potsdam vom November, das am Mittwoch bekanntgeworden war. Daran hatten auch AfD-Funktionäre sowie einzelne Mitglieder der CDU und der erzkonservativen Werteunion teilgenommen. Der frühere Kopf der rechtsextremistischen Identitären Bewegung in Österreich, Martin Sellner, bestätigte, dass er dort über „Remigration“ gesprochen hatte. Rechtsextremisten meinen damit in der Regel, dass eine große Zahl Menschen ausländischer Herkunft das Land verlassen soll – auch unter Zwang. Am Wochenende hatten Zehntausende in Berlin, Potsdam und anderen Städten gegen Rechts demonstriert.
„Vermeintlich harmloser und beschönigender Ausdruck“
Die Jury-Sprecherin hatte schon im Dezember – also vor der aktuellen Debatte – berichtet, dass „Remigration“ unter den Einsendungen für die „Unwort“-Kür war. Seit 2016 setze sich die Identitäre Bewegung mit der Umdeutung des Begriffes Migration auseinander, dies sei auch in ihren Schriften nachzulesen, sagt Spieß.
Die Strategie, solche zunächst wenig „krawalligen“ Wörter zu benutzen, „um einen Konsens in der Mitte der Gesellschaft zu finden“, sei nicht neu. „Das Eindringen und die Verbreitung des vermeintlich harmlosen und beschönigenden Ausdrucks in den allgemeinen Sprachgebrauch führt zu einer Verschiebung des migrationspolitischen Diskurses in Richtung einer Normalisierung rechtspopulistischer und rechtsextremer Positionen“, befand die Jury. Dies dürfte sich 2024 auch in den Wahlkämpfen niederschlagen, erwartet Spieß.
Der Jury der unabhängigen und ehrenamtlichen Aktion gehörten neben vier Sprachwissenschaftlerinnen und -wissenschaftlern eine freie Journalistin sowie als Gastjuror in diesem Jahr der CDU-Politiker Ruprecht Polenz an. „Der harmlos daherkommende Begriff ‚Remigration‘ wird von den völkischen Nationalisten der AfD und der Identitären Bewegung benutzt, um ihre wahren Absichten zu verschleiern: die Deportation aller Menschen mit vermeintlich falscher Hautfarbe oder Herkunft, selbst dann, wenn sie deutsche Staatsbürger sind“, kommentiert Polenz die „Unwort“-Entscheidung. „Nach der Wahl zum ‚Unwort des Jahres‘ sollte diese Täuschung mit ‚Remigration‘ nicht mehr so leicht gelingen“, so der CDU-Politiker.
„Schon vor Jahren die Unschuld verloren“
Dass diese Rechnung aufgeht, bezweifelt der Vorsitzende des Sachverständigenrates für Integration und Migration (SVR), Hans Vorländer. Er sagt, die Benennung des „Unworts des Jahres“ sei ein „Empörungs- und Skandalisierungsritual“, das letztendlich aber auch die Resonanz des jeweiligen Begriffs verstärke – „man rückt ihn sozusagen in den Mittelpunkt“. Deshalb sei er über die diesjährige Entscheidung auch ein bisschen verärgert. Jury-Sprecherin Spieß sagte dazu, man sei sich bewusst darüber, dass der Begriff und das rechte Lager durch die Entscheidung auch mehr Aufmerksamkeit bekämen. Als zivilgesellschaftliche Aktion wolle man aber auf das Thema „aufmerksam machen, aufklären, zeigen, wie die Strategien funktionieren, damit man das dann auch dechiffrieren kann“, so die Sprachwissenschaftlerin.
Dadurch, dass Akteure der sogenannten Neuen Rechten „Remigration“ als Tarnbegriff für Vertreibung benutzten, habe dieser schon vor Jahren seine Unschuld verloren, findet Vorländer. Tatsächlich wird er in der Migrationsforschung sei etwa zehn Jahren kaum noch verwendet – vor allem dann nicht, wenn es darum geht, die freiwillige oder unter Zwang vollzogene Ausreise von Menschen aus Deutschland zu beschreiben.
Der Begriff „Remigration“ sei eng verknüpft mit dem rassistischen Konzept des „Ethnopluralismus“, sagt Vorländer. Auch dieser möge für Unkundige erst einmal harmlos klingen, drücke aber „eine Trennung der verschiedenen Ethnien voneinander“ aus. Beide Begriffe sollte man seiner Ansicht nach meiden, „damit wir nicht das Spiel von Rechtsextremisten betreiben“. Diese streben eine Deutungshoheit über den öffentlichen Diskurs an, um so „ihrem langfristigen Ziel einer schleichenden Veränderung der demokratischen Verfassungsordnung näher zu kommen“.
„Wort aus der Giftkiste“
Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) kommentiert die Entscheidung der Jury auf der Plattform X mit den Worten: „Wer hier lebt, hier arbeitet und sich zu den Grundwerten unserer Demokratie bekennt, gehört zu uns. Unabhängig von Herkunft oder Hautfarbe. Punkt.“ Die FDP-Innenpolitikerin Ann-Veruschka Jurisch sagte: „Die Wortwahl der AfD sollte jeden wachrütteln.“ Die Bundestagsabgeordnete warnt, „Remigration“ sei „ein Wort aus der Giftkiste“. Wer es verwende, dem gehe es nicht um die rechtsstaatlich begründete Abschiebung von abgelehnten Asylbewerbern. Die Fraktionsvorsitzenden Ost der AfD hielten dagegen in einer Mitteilung am Begriff „Remigration“ und entsprechenden Forderungen fest.
Auf Platz zwei setzte die Jury diesmal den Begriff „Sozialklimbim“, der im Zuge der Debatte um die Kindergrundsicherung verwendet worden sei. Durch diese Wortwahl werde die Gruppe einkommens- und vermögensschwacher Personen herabgewürdigt und diffamiert und zugleich die Gruppe der Kinder, die von Armut betroffen oder armutsgefährdet seien, stigmatisiert. Den dritten Platz belegt der Begriff „Heizungs-Stasi“. Die Jury kritisierte den mit Blick auf das Gebäudeenergiegesetz verwendeten Ausdruck als „populistische Stimmungsmache gegen Klimaschutzmaßnahmen“.
Das „Unwort des Jahres“ wurde nach verschiedenen Kriterien aus Vorschlägen ausgewählt, die Bürgerinnen und Bürger bis 31. Dezember 2023 eingereicht hatten. Infrage kommen Begriffe und Formulierungen, die gegen die Prinzipien der Menschenwürde oder Demokratie verstoßen, die gesellschaftliche Gruppen diskriminieren oder die euphemistisch, verschleiernd oder irreführend sind. Ziel sei es, für einen angemessenen Sprachgebrauch zu sensibilisieren. Insgesamt gab es dieses Mal 2301 Einsendungen, die 710 verschiedene Begriffe enthielten, von denen knapp 110 den Kriterien der Jury entsprachen. Für 2022 war die Wahl auf „Klimaterroristen“ gefallen. (dpa/mig) Leitartikel Panorama
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