„Massive Diskursverschiebung“
Mehr Besucher, aber auch mehr Übergriffe in NS-Gedenkstätten
Im Jahr 2023 hat es wieder mehr Besucher in den NS-Gedenkstätten gegeben als im Vorjahr - wenn auch nicht so viele wie vor der Pandemie. Seit der Gewalteskalation im Nahen Osten beobachten einige Einrichtungen mehr antisemitische Übergriffe.
Montag, 22.01.2024, 14:20 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 22.01.2024, 14:43 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Die Zahl der Besucher in den deutschen NS-Gedenkstätten ist das zweite Jahr in Folge deutlich gestiegen. Wie eine Umfrage des „Evangelischen Pressedienstes“ unter den Einrichtungen ergab, besuchten 2023 mehr Menschen Gedenkstätten, die an die Verbrechen und Opfer des Nationalsozialismus erinnern, als im Vorjahr, in dem es zumindest in den ersten Monaten noch Corona-Beschränkungen gab. Das Niveau der Besucherzahlen aus dem Vor-Corona-Jahr 2019 wurde aber meist noch nicht wieder erreicht. Zudem berichteten einige Gedenkstätten von einer Zunahme antisemitischer Übergriffe seit dem Angriff der Hamas auf Israel am 7. Oktober.
Die KZ-Gedenkstätte Sachsenhausen in Brandenburg zählte nach eigenen Angaben eine halbe Million Gäste. Das sind deutlich mehr als die 355.000 im Vorjahr, aber auch deutlich weniger als die 700.000 Besucher aus dem Vor-Corona-Jahr 2019. In die niedersächsische Gedenkstätte Bergen-Belsen kamen laut einer Sprecherin rund 215.000 Menschen. Das waren mehr als im Vorjahr, erreichte aber nicht die Besucheranzahl aus dem Vor-Corona-Jahr mit rund 250.000 Besuchern.
Einen deutlichen Anstieg der Besucherzahl verzeichnete die Gedenkstätte Deutscher Widerstand in Berlin. Nach eigenen Angaben wurden im vergangenen Jahr 96.059 Gäste registriert, 44.323 mehr als im Jahr davor und damit beinahe so viele wie vor der Pandemie. Die Stiftung Hamburger Gedenkstätten, zu der die KZ-Gedenkstätte Neuengamme gehört, zählte rund 146.000 Besucherinnen und Besucher, auch deutlich mehr als die 108.000 Menschen im Jahr 2022.
Holocaust forderte 17 Millionen Menschenleben
In Bayern konnte die KZ-Gedenkstätte Flossenbürg mit 79.600 Besucher zwar nicht an die Besucherzahlen von 2019 anschließen, nach eigenen Angaben haben in Flossenbürg allerdings auch im Vor-Corona-Vergleich deutlich mehr Menschen an betreuten Programmen wie Führungen und Projekttagen teilgenommen. Aus der KZ-Gedenkstätte Dachau bei München gibt es laut einer Sprecherin keine genauen Zahlen, da es im Rahmen der kostenfreien Besuche keine Tickets oder Besucherzählungen gibt. Die Stiftung Buchenwald und Mittelbau-Dora bei Weimar konnte noch keine konkreten Zahlen für das vergangene Jahr nennen.
Zwischen 1933 und 1945 ermordeten die Nationalsozialisten fast sechs Millionen Juden in ganz Europa und Nordafrika – durch Vergasung, Erschießung oder Verhungern. Schätzungen von Experten zufolge sind dem Holocaust rund 17 Millionen Menschen zum Opfer gefallen.
Zunahme antisemitischer und israelfeindlicher Übergriffe
Seit der Gewalteskalation im Nahen Osten verzeichneten einige Einrichtungen eine Zunahme antisemitischer und israelfeindlicher Übergriffe. Im NS-Dokumentationszentrum in Köln ereigneten sich laut einer Sprecherin rund 70 Prozent der rund 20 dokumentierten Vorfälle nach dem 7. Oktober. Wie auch in den KZ-Gedenkstätten Sachsenhausen und Bergen-Belsen handle es sich vor allem um eine Zunahme antisemitischer und israelfeindlicher Äußerungen in Gästebüchern, E-Mails und auf Feedback-Karten.
Stefan Querl, Leiter des Geschichtsortes Villa ten Hompel, Sitz der Ordnungspolizei im Nationalsozialismus, in Münster, beobachtet in Gesprächen mit Gästen „eine massive Diskursverschiebung“ in Richtung von Antisemitismus. Die Villa ten Hompel erreichten seit der erneuten Eskalation im Nahostkonflikt vermehrt Anfragen von Lehrkräften, wie politischen, antisemitischen Provokationen im Schulalltag zu begegnen seien, so Querl. Ein Sprecher der Gedenkstätte Dachau berichtet von einer Verlagerung rechtsmotivierter Übergriffe in den digitalen Raum. Nach eigenen Angaben gibt es seit dem 7. Oktober auch auf den sozialen Kanälen der Gedenkstätten Sachsenhausen und Bergen-Belsen vermehrt antisemitische Kommentare. (epd/mig) Aktuell Panorama
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