Bernd Kasparek im Gespräch
Migrationsexperte erwartet „katastrophale Zustände“ an EU-Außengrenzen
Über Jahre hat die EU über ihre Migrationspolitik gestritten, im Dezember gelang der Durchbruch: Die EU brachte eine Reform des Asylrechts auf den Weg. Migrationsexperte Bernd Kasparek erklärt im Gespräch, warum er die Verschärfung für unbrauchbar hält. Das System heiße jetzt nicht mehr „Dublin“, die Idee lebe aber weiter.
Von Marlene Brey Dienstag, 23.01.2024, 12:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 23.01.2024, 11:48 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Die Asylreform der EU war mit der Hoffnung verbunden, die Verteilung von Schutzsuchenden fairer zu regeln und EU-Staaten zu mehr Solidarität zu verpflichten. Ist das gelungen?
Bernd Kasparek: Solidarität kommt in dieser Reform nur sehr begrenzt vor. Formal gibt es einen sogenannten Solidaritätsmechanismus. Aber da geht es um die Verteilung von 30.000 Personen. Das heißt, EU-Staaten könnten Italien und Griechenland je 15.000 Personen pro Jahr abnehmen. Das korrespondiert nicht im Geringsten mit den Ankunftszahlen. Außerdem gibt es die Möglichkeit, sich für 20.000 Euro pro Person rauszukaufen. Ich bin sicher, dass viele Staaten diese 20.000 Euro gerne zahlen, zumal das Geld in einen zentralen Fonds geht, aus dem dann zum Beispiel Maßnahmen zur Grenzsicherung bezahlt werden.
Die EU-Asylreform umfasst fünf Gesetzestexte, die sich auf alle Etappen der Migration beziehen. Zuerst müssen alle Ankommenden in ein Screening. Was passiert dort?
Innerhalb von sieben Tagen findet eine Registrierung statt, biometrische Daten werden gespeichert, eine Sicherheitsüberprüfung und ein Gesundheitscheck finden statt. Das Wichtige ist: Dabei werden die Personen so behandelt, als wären sie noch nicht in die EU eingereist. Das nennt sich „Fiktion der Nicht-Einreise“. Konkret heißt das, die Menschen können sich nicht auf gewisse europäische Rechte berufen.
Das EU-Parlament hat ein Monitoring gefordert, damit Menschen nicht an der Grenze zurückgeschoben werden. Damit sind sogenannte Pushbacks gemeint. Was ist daraus geworden?
„Es wird weiterhin Pushbacks geben, weil man sie weder gezielt überwacht noch bestraft.“
Dieser Monitoring-Mechanismus ist effektiv ausgehöhlt. Es wird weiterhin Pushbacks geben, weil man sie weder gezielt überwacht noch bestraft.
Im Screening wird geprüft, in welches Verfahren die Schutzsuchenden im Anschluss kommen. Wer kommt in die umstrittenen Grenzverfahren, die Asyl-Schnellverfahren an der Außengrenze?
Das hängt zum einen von der Nationalität ab. Liegt die Anerkennungsquote für Asyl von Staatsangehörigen bei unter 20 Prozent, kommen sie ins Grenzverfahren. Für mich ist das ein Denkfehler: Gerade bei niedrigen Anerkennungsquoten sollte man sehr genau prüfen, damit man Opfer von Verfolgung auch wirklich findet. Wer durch einen sicheren Drittstaat in die EU eingereist ist, kann ebenfalls ins Grenzverfahren kommen.
Die Grundidee der Grenzverfahren ist, dass Menschen mit geringen Bleibechancen schnell wieder abgeschoben werden. Ist das realistisch? Es braucht schließlich auch einen Staat, der bereit ist, sie aufzunehmen.
„Abschiebungen misslingen eben meistens nicht, weil Leute untertauchen oder unauffindbar sind, wie die deutsche Debatte das gerade nahelegt.“
Das ist die richtige Frage und meine Antwort lautet: nein. Das ist schon immer das ungelöste Problem gewesen. Abschiebungen misslingen eben meistens nicht, weil Leute untertauchen oder unauffindbar sind, wie die deutsche Debatte das gerade nahelegt. Sondern die meisten Staaten sind schlichtweg nicht bereit, Personen zurückzunehmen und schon gar nicht fremde Staatsangehörige. Dafür müsste man einem Land schon massiv viel Geld anbieten.
Das heißt, es könnte einen Rückstau in den Einrichtungen geben, weil die Menschen kein Asyl bekommen, aber auch nicht abgeschoben werden können?
Ganz genau, so wie man das auf den griechischen Inseln schon sieht. Griechenland hat die Türkei zu einem sicheren Drittstaat erklärt. Die Rückschiebung der deswegen abgelehnten Asylsuchenden in die Türkei ist aber nicht möglich, weil die Türkei diese Menschen in der Regel nicht zurücknimmt. Diese Menschen sitzen fest, können weder vor noch zurück.
Wer nicht in die Grenzverfahren kommt, weil er nicht zur genannten Personengruppe gehört oder weil die vorgesehenen 30.000 Plätze für Grenzverfahren voll sind, der kommt in ein reguläres Asylverfahren. Wo findet das statt?
Trotz Reform bleibt der Staat für einen Asylbewerber zuständig, in dem dieser angekommen ist. Das heißt, die Asylverfahren müssten zwingend in den Staaten an der Außengrenze stattfinden. Das sind also mehrheitlich Italien oder Griechenland. Erst wenn die Menschen als Flüchtlinge anerkannt sind, können bis zu 30.000 umverteilt werden.
Was heißt das für Staaten wie Italien und Griechenland?
„Die Reform wird zu humanitär katastrophalen Zuständen an der Außengrenze führen.“
Ich gehe von einer massiven Ausweitung von Inhaftierungen in den Staaten an der Außengrenze aus. Denn die Grenzverfahren sind verpflichtend. Die Reform wird damit zu humanitär katastrophalen Zuständen an der Außengrenze führen. Genau deswegen kann ich mir aber auch gut vorstellen, dass Griechenland und Italien am Ende erneut sagen werden, dass sie sich nicht mehr an diese Regeln halten und die Leute weiterreisen lassen. Ohne ein tatsächliches europäisches Solidarsystem gibt es keinen guten Anreiz für die südlichen Staaten, bei diesem System mitzumachen. Die Zuständigkeit für Asylverfahren an die Einreise – und damit an die Geografie – zu knüpfen, war von Anfang an ein Fehler. Auch wenn das System jetzt nicht mehr „Dublin“ heißt, lebt die Idee weiter.
Wie lautet Ihr Fazit zur Reform?
Diese Reform löst keines der von der EU benannten Probleme. Gleichzeitig werden sich die Umstände für Schutzsuchende massiv verschlechtern. Dass Staaten die Regeln absehbar brechen werden und Menschen in Lagern feststecken, macht dieses System zu einer Steilvorlage für die Rechten. Sie werden das Scheitern zum Anlass nehmen und sagen: Europa funktioniert nicht, und die Migration ist eine Bedrohung. (epd/mig)
Aktuell PanoramaInfo: Dieses Interview mit Prof. Bernd Kasparek wurde bereits im Dezember 2023 geführt.
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