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Völkische Vorstellungen

Kein Rechtsextremismus ohne Mitte

Die AfD greift, getragen von einem Umfragehoch nach dem anderen, nach der Macht. Und das, obwohl sie offen rechtsextreme Positionen vertritt. Gestärkt wird sie dabei durch eine Politik aus der Mitte, die völkische Vorstellungen nie überwunden hat.

Von Mittwoch, 24.01.2024, 11:12 Uhr|zuletzt aktualisiert: Donnerstag, 10.10.2024, 8:12 Uhr Lesedauer: 15 Minuten  |  

Chefermittler Wolfgang Geier sagte vor mehr als zehn Jahren im bayerischen NSU-Untersuchungsausschuss, die Existenz von rechtem Terror in Deutschland war für ihn bis zum Bekanntwerden des Trios nicht vorstellbar. Als es 2015 zu 528 Übergriffen und Anschlägen auf Geflüchtetenunterkünfte und deren Bewohner:innen kam, wollten viele nicht unbedingt eine rechte Motivation, sondern Sorge vor „Überfremdung„ darin erkennen. Als die damalige AfD-Parteisprecherin Frauke Petry im Jahr darauf forderte, den Begriff des Völkischen „wieder positiv“ zu besetzen, gab es zwar vielfach Empörung, doch sie wurde auch vehement verteidigt. Und noch 2019 hatte Doris Akrap nach dem rechtsextrem motivierten Mord an CDU-Politiker Walter Lübcke in der taz das Gefühl, „dass dieses Land nicht so richtig darüber sprechen will.“

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Viele Skandale aus dem rechtsextremen Spektrum später veröffentlichte Correctiv vergangene Woche die wichtigen Recherchen zu gewaltsamen Massendeportationsplänen eines Netzwerks aus Identitären, AfD- und CDU-Politiker:innen. Auch sie lösten teilweise wieder Überraschung aus, als handle es sich beim Aufgedeckten um einen isolierten, unerhörten Vorfall.

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Rechtsextreme Strukturen? Einzeltat!

Dabei ist die Geschichte organisierter rechtsextremer Bestrebungen in der BRD und ehemaligen DDR so alt wie ihre Gründungen und schließt direkt an die NS-Zeit an: Bereits 1949 wollten ehemalige Offiziere der Wehrmacht und der Waffen-SS eine Geheimarmee aufbauen. In den 50er Jahren versuchten dann ehemals hochrangige Nazi-Kader die FDP zu einer „NS-Kampftruppe“ umzubauen, um die Macht wiederzuergreifen.

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So parteipolitisch organisiert, mächtig und damit gefährlich für das demokratische Deutschland wie heute war die politische Rechte jedoch wohl noch nie seit 1945. Und trotzdem, so scheint es noch immer in Teilen der öffentlichen Wahrnehmung, kann immer noch nicht sein, was nicht sein darf. Hat diese Gesellschaft ein Problem damit, rechtsextreme Strukturen und Kontinuitäten zu erkennen? Lillemor Kuth schreibt in ihrem Aufsatz über die Isolierung rechten Terrors von gesellschaftlichen Zusammenhängen am Beispiel des sog. NSU, dass rechter Terror durch die Wahrnehmung als Einzeltat „konsequent strukturell unterschätzt und bagatellisiert„ wurde und wird. Und weiter:

„Eine organisierte, gewalttätige extreme Rechte erscheint schwer denkbar. Gleichzeitig dient diese als Kontrastfolie, um sich als ‚demokratische Mitte‘ von Rassismus zu distanzieren. Der NSU-Komplex steht exemplarisch dafür, dass rechter Terror nicht ohne Rassismus, ohne dessen Einbindung in gesamtgesellschaftliche Zusammenhänge, verstanden werden kann.“1

Ohne Mitte kein Rechtsextremismus

Mit anderen Worten: Es geht um die Kontinuität eines strukturellen, institutionellen und gesellschaftlichen Rassismus, ohne den eine starke extreme Rechte in Deutschland nicht möglich wäre. Viele Impulse zu den rechtsextremen Positionen jedenfalls, die Parteien wie heute die AfD in der breiteren Bevölkerung verankern wollen, kommen seit jeher direkt aus einem Teil jener Bevölkerung, der gemeinhin als gesellschaftliche und politische Mitte bezeichnet wird. Ein Beispiel: Der Medienwissenschaftler Thomas Hestermann untersuchte die Berichterstattung über Geflüchtete Menschen seit der Silvesternacht 2015/16 in einer Studie und kam zu dem Schluss, überregionale Tageszeitungen und TV-Sender hätten „den gewalttätigen Einwanderer als Angstfigur neu entdeckt”. Auch Politikwissenschaftlerin Eva Berendsen schreibt in dem von ihr herausgegebenen Buch „Extrem Unbrauchbar”: „Die anhaltende mediale Stimmungsmache gegen die ‚Flüchtlingswelle‘, die angeblich wie eine Naturkatastrophe über Deutschland hereinbricht, kam von keinem gesellschaftlichen Rand, sondern ihren etablierten Institutionen.”

Diese Impulse nehmen seit Jahren v.a. in Bezug auf Migration stetig zu und sind seit einigen Monaten nicht mehr übersehbar. Sie wird in Deutschland immer wieder mit besonderem Fokus auf Abstammung, kulturelle Identität und Kompatibilität sowie wirtschaftliche Nützlichkeit und gesellschaftliche Belastung geführt. Das sind v.a. die Kategorien, die auch in rechtsextremen Weltanschauungen eine maßgebliche Rolle spielen, wenn es um den Ausschluss bestimmter Menschengruppen geht, die als fremd oder undeutsch markiert werden. Ein Bindeglied dabei sind Ideen und Dynamiken, die ihren Ursprung in völkischen Ideologien des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts haben. Wir erleben im Moment das Wiedererstarken und die Wirkmächtigkeit dieser Dynamiken.

Was bedeutet völkisch?

Ohne die völkische Bewegung wären sowohl der historische Nationalsozialismus als auch der heutige Rechtsextremismus nicht denkbar:

„Aus der völkischen Ideologie entspringt die ethnisch homogene Gemeinschaft, in der Fremde störend sind. Und wenn ich von der völkischen Ideologie des frühen 20. Jahrhunderts ausgehe, sind das vor allem ,nicht-weiße’ Menschen.”

So fasst Uwe Puschner, Professor für Neuere Geschichte an der Freien Universität den Kern des Völkischen zusammen. Er forscht seit vielen Jahren dazu. Ziel der völkischen Bewegung war es, alles ethnisch und kulturell als undeutsch wahrgenommene auszuschließen. Das galt nach dieser Vorstellung gleichermaßen für Juden, Slawen, Deutsche mit ausländischer Abstammung, aber auch zum Beispiel für Linke oder Menschen mit Behinderung. Die ideologischen Parallelen zu dem von Correctiv aufgedeckten Treffen und dem dort besprochenen mit völkischen Ideologien sind offensichtlich, wie die Historikerin Annika Brockschmidt bereits vergangene Woche herausgearbeitet hat.

Die AfD- und CDU-Politiker:innen, Identitären und Unternehmer diskutierten den Recherchen nach einen „Masterplan” zur Vertreibung von Millionen Menschen nach rassistisch ausgelegten ethnischen und kulturellen Kriterien – egal ob mit oder ohne deutsche Staatsbürgerschaft. So sollen Asylbewerber:innen, Ausländer:innen mit Bleiberecht und „nicht assimilierte Staatsbürger”, aber auch schlicht politisch unerwünschte Menschen wie etwa „alle, die sich für Geflüchtete einsetzen” in einen „Musterstaat” in Afrika vertrieben werden, der dort errichtet werden soll. Angestrebt wird die ethnisch homogene Volksgemeinschaft, die Kernidee völkischer Ideologien.

Gegen die AfD, für ihre Politik?

Was hier besprochen wurde, ist klar faschistoid. Nach Aufdeckung der Pläne gingen in ganz Deutschland hunderttausende auf die Straße, um gegen Rassismus und für Demokratie zu protestieren – darunter auch Regierungsvertreter:innen wie Bundeskanzler Olaf Scholz und Außenministerin Annalena Baerbock, die in Potsdam an einer Demonstration gegen Faschismus teilnahmen. Fünf Tage später beschlossen sie mit dem Bundestag ein Gesetz, das Abschiebungen deutlich erleichtert, Ausreisehaft verlängert und z.B. Seenotrettung kriminalisiert.

Der Protest dagegen fällt deutlich geringer aus. Denn trotz anhaltender Warnungen und Kritik von marginalisierten Gruppen scheinen bisher weitaus weniger Menschen in Deutschland erkannt zu haben, dass sich die Parteien der sog. Mitte längst auf den Weg gemacht haben, sich den Maximalpositionen der AfD anzunähern, „die oft nur eine Radikalisierung und Überspitzung des Geistes der herrschenden Asylpolitik” sind, wie Kerem Schamberg kommentiert. Seit Monaten wird für Asylrechtsverschärfungen mobilisiert. Politiker:innen wie Friedrich Merz (CDU), Markus Söder (CSU), Marie-Agnes Strack-Zimmermann (FDP) oder Hubertus Heil (SPD) uvm. warnten vergangenes Jahr in monatlichen Abständen vor einer angeblichen Einwanderung in die Sozialsysteme, Bundeskanzler Olaf Scholz forderte auf dem Titel des Spiegel „endlich im großen Stil” abzuschieben und die Zustimmung der Regierung zur EU-Asylrechtsreform GEAS, nach der Asylbewerber:innen u.a. an den Außengrenzen haftähnlich interniert werden können, wurde von sämtlichen Parteien als historische Errungenschaft gefeiert. All diesen Zugeständnisse geben den Rechtsextremen Forderungen nach, die eine komplette Gruppe von Menschen vor allem als Bedrohung zeichnen, die weggeschafft werden müsse. Da klingt die Forderung Jens Spahns vom Dezember, Geflüchtete in afrikanische Drittstaaten wie Ruanda oder Ghana abzuschieben, auf einmal gar nicht mehr so weit weg vom Deportations-„Masterplan“, der ja „nur” noch etwas weiter geht.

Völkischer Populismus

In Bezug auf diese Migrationsdebatten erkennt Prof. Dr. Jürgen Zimmerer durchaus einen völkischen Populismus, auf den leider auch immer mehr Politiker:innen der Mitte zugriffen. Er ist Globalhistoriker an der Universität Hamburg und leitet die Forschungsstelle Hamburgs (post-)koloniales Erbe.

„[Die Politiker:innen] verkennen dabei, dass sie mit jedem Hinweis in der von ihnen genannten Art, mit jeder Forderung, dass bestimmten Menschen der deutsche Pass aberkannt werden müsse, dass bestimmte Menschen nicht Deutsch werden könnten, und das immer auf migrantisch gelesene Menschen gemünzt ist, völkische Vorstellungen neu aktiviert und normalisiert werden.”

Seit vergangenem Sommer gab es aus vielen Parteien heraus Forderungen, bestimmten Menschen bei Vergehen die Staatsangehörigkeit zu entziehen. Gemeinsam ist den davon betroffenen Menschen eine Abstammung, die auf eine Einwanderungsgeschichte hindeutet. Sie ermöglicht es rechtlich, auch als Deutsche noch anders behandelt zu werden als Deutsche mit deutschen Vorfahren. Eine Tatsache, die auch mit dem Deportations-„Masterplan“ ausgenutzt werden soll.

Deutscher Abstammungsfetisch

Auf Abstammung zielte auch die Vornamenabfrage der Berliner CDU beim Berliner Senat, nachdem sich herausgestellt hatte, dass die meisten Tatverdächtigen der Silvesternacht 2022/23 Deutsche waren. Auch für CDU-Chef Friedrich Merz ein Anlass, die Verantwortung der Ausschreitungen damals ausschließlich „kleinen Paschas“, also Jugendlichen mit arabischer Einwanderungsgeschichte, zuzuschieben. Gegen Ende des Jahres forderte dann FDP-Vize Wolfgang Kubicki eine Begrenzung des „Migrantenanteils“ auf 25 Prozent in Stadtvierteln, woraufhin CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann eine Migrantenquote von 35 Prozent in Schulen vorschlug.

Abstammung zog sich als gemeinsamer Nenner politischer Forderungen durch das gesamte Jahr 2023. Besonders deutlich wurde dies nach den Terroranschlägen der Hamas in Israel am 7. Oktober. Zahlreiche Politiker:innen, darunter Markus Söder forderten einen Passentzug in Fällen von Antisemitismus unter Migrant:innen. Muslim:innen und Menschen mit arabischer Einwanderungsgeschichte wurden in zahlreichen Reden gesondert und ausschließlich dazu aufgefordert, sich von der Hamas und Antisemitismus zu distanzieren, während viele Demonstrationen, die das Leid auf palästinensischer Seite in den Blick nehmen wollten pauschal und präventiv verboten wurden. Obwohl Teil Deutschlands, hatten viele das Gefühl, dass ihnen kein Raum für ihre Trauer zugestanden würde.

All das lässt in Deutschland – bei aller wortreichen Distanzierung von Rassismus – immer noch eine besondere Fokussierung auf und Unterscheidung nach Abstammung erkennen, die einst vom Völkischen zum Fetisch gemacht und von den Nazis als Götze verehrt wurde. All diesen Forderungen ist gemeinsam, dass sie sich ausschließlich an jene Deutschen richten, die eine jüngere Einwanderungsgeschichte aufweisen. In all diesen Forderungen und Aussagen schwingt – mehr oder weniger explizit – die Auffassung mit, dass man richtig deutsch nur sein und nicht werden kann . Auch rechtsgeschichtlich steht dies in Deutschland in langer Tradition:

Seit 1913 galt in Deutschland das Abstammungsprinzip (ius sanguinis: Blutrecht). Deutscher war, wer deutsche Eltern hatte. Das Gesetz ging direkt zurück auf den damals starken völkisch-rassistischen Einfluss auf die Politik.2 Die Nazis hoben das Gesetz zugunsten des Rasseprinzips auf, doch wurde es nach 1945 wieder unverändert eingesetzt. Erst im Jahr 2000 wurde das Gesetz grundlegend reformiert und das Abstammungsprinzip um das Territorialprinzip (ius solis) erweitert – entgegen starker und lang anhaltender Widerstände. „Hier spielten und spielen völkische Vorstellungen ebenso eine Rolle wie bei den Kampagnen gegen Menschen mit Doppelpass, wie wir sie leider auch jetzt wieder erleben“, sagt Jürgen Zimmerer dazu.

Deutsch ist, wer nicht nicht deutsch ist

Deutschland hat sich stets darüber definiert, wer nicht deutsch ist. Das hat sich auch in der BRD nicht geändert, jedoch mit einer entscheidenden Wendung, die der bürgerliche Rassismus im Gegensatz zu dem der extremen Rechten erfahren hat: Der Rassebegriff ist seit 1945 tabu. Das bedeutet jedoch nicht, dass Rassismus damit verschwunden wäre. Die Historikerinnen Rita Chin und Heide Fehrenbach, die sich auf Migration und „race and ethnicity“ spezialisiert haben, arbeiteten heraus, dass nun eine Überbetonung kultureller Erklärungsansätze an die Stelle biologistischer Deutungen traten, um fundamentale Unterschiede zwischen Völkern zu erklären.3 Damit wurde es zwar ein Leichtes, sich von eindeutig rassistischer Rhetorik der extremen Rechten abzugrenzen. Jedoch wurde immer noch eine nationale Homogenität angenommen, die es zu erhalten galt. Das beschreibt Chin anschaulich am Beispiel der seit den 1950er Jahren nach Deutschland kommenden Migrant:innen („Gastarbeiter“). Als in den 80er Jahren die Frage nach Einbürgerung diskutiert wurde, war Kultur statt Biologie das entscheidende Argument, um angebliche Inkompatibilität mit Deutschen zu erklären:4 Alfred Dregger von der CDU warf der damals regierenden SPD 1982 im Bundestag vor, nicht genug gegen die permanente Niederlassung von Türk:innen zu tun. Sie nicht zu Staatsbürger:innen zu machen begründete er u.a. mit mangelnder Akkulturation: „Türken sind aber – von Ausnahmen abgesehen – nicht nur nicht zu assimilieren, sie sind auch nur schwer zu integrieren.“ Und an anderer Stelle:

„Wie das Beispiel gerade der Türken zeigt, gibt es auch in der zweiten Generation Ausländer, die in Mentalität und Sprachgewohnheit Ausländer geblieben sind und bleiben wollen. Ist das der Fall, kann eine Einbürgerung nicht in Frage kommen.„

Die Position der CDU war es, dass eine Einbürgerung nur nach vollkommener „Germanization“ in Frage kommen konnte.5

Leidige Leitkulturdebatte

Heute sind viele der von Dregger angesprochenen Menschen und deren Nachkommen deutsche Staatsbürger:innen. Und noch immer werden ihre Sprache, Religion, bestimmte Wertvorstellungen oder Bräuche als fremd wahrgenommen. Besonders deutlich wird das z.B. jedes Mal, wenn Debatten über sog. „Leitkultur“ forciert werden, die in Deutschland in den vergangenen 20 Jahren mindestens sechsmal geführt wurden. Zuletzt forderte Friedrich Merz wieder eine Diskussion über den Begriff, und die CDU ließ ihn nun sogar im neuen CDU-Grundsatzprogramm festschreiben. Dort wird von Migrant:innen gefordert, „sich im Sinne unserer Leitkultur an unsere Art zu leben anzupassen und sich zu integrieren“, als gebe es in Deutschland eine einheitliche, homogene Art zu leben und als kämen Abweichungen davon immer von außen. Chin und Fehrenbach schreiben: So ein Selbstverständnis

„schließt die sozialen Auswirkungen historischer Migrationsbewegungen, Durchmischungen und Nachkommen aus, die […] das Leben in der modernen Welt geprägt haben. Indem diese alternativen Geschichten ignoriert werden, wird suggeriert, dass Deutschland bis vor kurzem im Wesentlichen christlich und, selbst wenn multiethnisch, dennoch weiß war.“67

Angesprochen auf die Leitkultur-Rhetorik, wirft Uwe Puschner die Frage auf, ob diese überhaupt einen inhaltlichen Anspruch hat: „Wir haben es hier mit ‚Sendern‘ zu tun, die mit diesen Äußerungen bestimmte Zielgruppen erreichen wollen. Und man muss fragen, wer sind diese Zielgruppen? Und ferner: Handelt es sich hier um Leerformeln? Des Weiteren: Welche intellektuellen und gesellschaftspolitischen Potenziale und Inhalte bergen sie?“

Parallelen zum Ethnopluralismus

Konkrete Antworten darauf, was denn „unsere Art zu leben“ sei, finden sich jedenfalls selten. Friedrich Merz sagte, der Kauf eines Weihnachtsbaums gehöre für ihn z.B. dazu: „Es ist die Art von christlich-abendländisch geprägter kultureller Identität, die sich über Generationen überträgt, von der unsere Kinder geprägt sind, und die sie dann so oder so ähnlich selbst weitertragen“, sagte er. Das wirkt ausschließend und erweckt den Anschein, Kulturen würden als homogene Einheiten verstanden, die sich grundsätzlich voneinander unterscheiden.

Dieses Argument starrer kultureller Abgrenzung und einer geschlossenen Identität weist Parallelen zur Idee des Ethnopluralismus auf, das als Weltbild zentral für die Neue Rechte ist und durch die Bank von Anhängern der Identitären Bewegung oder Götz Kubitscheks gesichert rechtsextremen Institut für Staatspolitik vertreten wird und an dem sich auch die AfD programmatisch orientiert. Nach dieser im Kern rassistischen Vorstellung ordnet sich die Welt in starre Völker und Kulturen ein. Der Wechsel in eine andere Kultur sei nicht möglich, eine Durchmischung sei gefährlich und von Konflikten geprägt. Anstelle des verpönten Rassebegriffs wird jedoch auch hier „kulturelle Identität“ benutzt, die unveränderlich sei und vor fremden Einflüssen geschützt werden müsse.

„Menschen, die ethnisch keine Deutschen sind, werden unabhängig von ihrer Staatsbürgerschaft als Störfaktoren wahrgenommen, die die ‚nationale Identität‘ der Deutschen bedrohen. Dasselbe gilt für Kultureinflüsse, die in diesem Sinne nicht als deutsch gelten, insbesondere Einflüsse aus der islamisch geprägten Welt und den USA.“8

Letztendlich wohnt dieser Ideologie in ihrem Kampf gegen die angebliche Überfremdung jener Sozialdarwinismus inne, der dem Völkischen immanent ist.

Bürgerliche Totengräber

Nun müssen Parallelen nicht zwangsläufig kausal sein. Auch Uwe Puschner möchte einzelnen Politiker:innen, die auf Abgrenzungsrhetorik wie „Leitkultur“ oder „unsere Art zu leben“ zurückgreifen, nicht ungeprüft eine völkische Denkweise unterstellen, beobachtet jedoch eine Verrohung der Sprache: „Und wir kennen die Zusammenhänge von Verrohung der Sprache und der Verfestigung von Meinungen und Überzeugungen, die dann auch zu entsprechendem Handeln führen können.“

Noch immer scheinen viele Politiker:innen und Menschen, die von sich selbst bürgerliche Mitte sprechen würden, nicht begriffen zu haben, wie ernst die Lage ist, wenn sie noch immer rechtsextreme Positionen übernehmen, normalisieren oder verharmlosen – trotz einer so reichen Geschichte, die andere Schlüsse zulassen sollte. Wie sonst lässt sich selbst nach der Correctiv-Recherche noch der Artikel Alan Poseners in der Welt erklären, in dem er der CDU rät, mit der AfD zu koalieren, um sie zu entzaubern? Jürgen Zimmerer tweetete dazu „Papen lässt grüßen!“, und nahm damit Bezug auf den Mann, der das 1933 schon einmal mit der NSDAP versucht hat: Franz von Papen, Totengräber der Weimarer Republik.

  1. Lillemor Kuth, Ein Ausnahmefall? Über die Isolierung rechten Terrors von gesellschaftlichen Zusammenhängen am Beispiel NSU, in: Eva Berendsen et al., Extrem Unbrauchbar, Über Gleichsetzungen von links und rechts, Verbrecher Verlag 2020, S. 196
  2. Oliver Trevisiol, Die Einbürgerungspraxis im Deutschen Reich 1871 – 1945, Universität Konstanz, 2004, S. 43
  3. Rita Chin, Heide Fehrenbach, After the Nazi Racial State, Difference and Democracy in Germany and Europe, The University of Michigan Press, 2012, S. 13
  4. Rita Chin, Guest Worker Migration and the Unexpected Return of Race. In: Rita Chin et al., After the Nazi Racial State, Difference and Democracy in Germany and Europe, The University of Michigan Press, 2012, S. 82
  5. Rita Chin, Guest Worker Migration and the Unexpected Return of Race. In: Rita Chin et al., After the Nazi Racial State, Difference and Democracy in Germany and Europe, The University of Michigan Press, 2012, S. 90
  6. Rita Chin, Heide Fehrenbach, The Trouble with Race, Migrancy, Cultural Difference, and the Remaking of Europe. In: Rita Chin et al., After the Nazi Racial State, Difference and Democracy in Germany and Europe, The University of Michigan Press, 2012, S. 108
  7. Übersetzung von Gilda Sahebi
  8. Thomas Pfeifer, Wir lieben das Fremde – in der Fremde, Ethnopluralismus als Diskursmuster und -strategie im Rechtsextremismus. In: Jennifer Schellhöh et al., Großerzählungen des Extremen, Neue Rechte, Populismus, Islamismus, War on Terror, Transcript Verlag, 2018, S. 35
Leitartikel Meinung Politik
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