Experten beklagen
Massiver Abbau von Hilfsstrukturen für junge Geflüchtete
Massiver Abbau von Hilfsstrukturen für unbegleitete minderjährige Geflüchtete, Absenkung von Betreuungsstandards und lange Wartezeiten auf einen Schulplatz oder auf die Familienzusammenführung. Allen Hürden zum Trotz hat Ghatfan es geschafft. Er ist vor acht Jahren selbst geflüchtet und bringt den Neuankömmlingen nun vor allem eines bei: Geduld.
Von Martina Schwager Dienstag, 30.01.2024, 10:17 Uhr|zuletzt aktualisiert: Dienstag, 30.01.2024, 10:18 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
„Ghatfan, wie hast du das geschafft?“ Diese eine Frage steht für vieles, was die jugendlichen Flüchtlinge in Osnabrück von Ghatfan Alfayad wissen wollen: Wie hast du das geschafft, die Sprache zu lernen, eine Wohnung, Arbeit und eine Freundin zu finden, die Gesetze zu verstehen, akzeptiert zu werden? Der 29-Jährige kam vor acht Jahren mit Eltern und Geschwistern aus Syrien nach Deutschland. Heute hilft Alfayad Minderjährigen, die ohne Eltern die Flucht auf sich genommen haben – in einer Aufnahmeeinrichtung, die zeitweise aus allen Nähten platzt: „Ich zeige ihnen die Stadt, erkläre ihnen Regeln, suche Sprachkurse für sie, gehe mit ihnen Einkaufen, zum Arzt oder Fußballspielen.“
Der frisch ausgebildete Erzieher hat im Sommer seine erste Stelle in der vorläufigen Inobhutnahme für unbegleitete minderjährige Ausländer – kurz Umas – in Osnabrück begonnen. Laut Sozialgesetzbuch müssen die Jugendämter in Deutschland die überwiegend 13- bis 17-Jährigen in Obhut nehmen. Die Jugendlichen – in der Mehrzahl Jungen – bekommen einen Vormund und werden in betreuten Wohngruppen untergebracht, zunächst in einer vorläufigen Inobhutnahme, in der auch Alfayad arbeitet.
Betreuungsstandards abgesenkt
Seit Ende 2021 steigt die Zahl der Inobhutnahmen von unbegleiteten Minderjährigen, die aus anderen Ländern kommen, bundesweit deutlich an: Das Statistische Bundesamt meldete 2022 einen Zuwachs um 153 Prozent zum Vorjahr. Insgesamt kamen im Jahr 2022 rund 28.600 Jugendliche ohne ihre Eltern nach Deutschland. Im vergangenen Jahr sind die Zahlen weiter gestiegen. Vom bisherigen Höchststand von 44.900 Uma im Jahr 2016 ist Deutschland allerdings weit entfernt.
Dennoch sind fast überall die Aufnahmekapazitäten erschöpft. Der Bundesfachverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge, das Kinderhilfswerk terre des hommes und weitere Organisationen beklagen, dass Standards bei der Unterbringung und Betreuung abgesenkt würden. Vor allem in den Ballungszentren kämen Jugendliche zeitweise ohne Betreuung in Turnhallen unter. In Sachsen dürften sie neuerdings ab einem Alter von 16 Jahren in Aufnahmeeinrichtungen für Erwachsene untergebracht werden.
Hilfsstrukturen massiv abgebaut
Weil auch die Jugendämter überlastet seien, erhielten viele Minderjährige erst nach Wochen oder Monaten einen Vormund zugewiesen, sagt Sophia Eckert von terre des hommes. „Auf einen Schulplatz müssten sie oft mehrere Monate warten.“ Die Fluchtexpertin kritisiert, dass die Hilfsstrukturen in den vergangenen Jahren massiv abgebaut worden seien, obwohl die Krisen in der Welt fortbestünden. Auch im jüngsten Bericht der Bundesregierung zur Situation der minderjährigen Geflüchteten ohne Begleitung sind diese und weitere Mängel aufgelistet, etwa zur unzureichenden psychosozialen Versorgung der Jugendlichen.
In Osnabrück ist der Caritas-Fachverband skm zuständig für die drei vorläufigen Inobhutnahme-Einrichtungen. Die insgesamt 19 Plätze sind derzeit alle belegt. Noch vor drei Wochen standen dem Platzangebot aber doppelt so viele Jugendliche gegenüber, erzählen die beiden Leiterinnen Mechthild Broxtermann und Marlies Richels.
Irgendwann steigen die Zahlen wieder
Die beiden Sozialpädagoginnen und ihr Team wussten im Sommer und Herbst kaum, wo ihnen der Kopf steht. Mit Klappbetten, jeder Menge Überstunden und Unterstützung aus anderen Abteilungen haben sie es irgendwie geschafft. Ghatfan Alfayad war ihnen dabei eine große Hilfe – nicht nur, weil er sich mit vielen auf Arabisch verständigen kann: „Wenn er den Jungen etwas sagt, hat das eine ganz andere Wirkung. Sie sagen: ‚Er ist einer von uns‘“, betont Broxtermann.
Die Leiterinnen sind sich sicher, dass die Zugangszahlen irgendwann erneut ansteigen werden. Deshalb kann von Entspannung keine Rede sein. Sie wünschen sich, dass sie eine gewisse Anzahl von Fachkräften und Räumen als Reserve vorhalten könnten. Doch es bleibt die Frage, wer das bezahlen würde.
Stimmungswandel in der Bevölkerung
Zudem besorgt sie, dass die Stimmung in der Bevölkerung sich seit 2016 gewandelt habe. „Wir bekommen kaum noch Spenden. An Ehrenamtlichen sind nur noch zwei Sprachlehrerinnen geblieben“, sagt Broxtermann. „Dabei sind so viele motivierte, fleißige und ehrgeizige Jungen unter unseren Neuankömmlingen.“
Ghatfan Alfayad ist traurig, dass er die Jugendlichen, die mit vielen Erwartungen nach Deutschland kommen, manchmal hart auf den Boden der Tatsachen zurückholen muss. Für Schulplätze oder den Umzug in eine dauerhafte Wohngruppe gibt es oft monatelange Wartezeiten. Der Nachzug ihrer Eltern, auf den sie alle so sehr hoffen, wird noch viel länger dauern. „Sie fragen mich immer, wann sie den nächsten Schritt gehen können. Ich kann ihnen nur sagen, dass sie Geduld haben müssen.“ (epd/mig) Aktuell Panorama
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