Schoah-Gedenken im Bundestag
Es begann mit Schweigen und Wegschauen
Nicht nur die Toten, auch die Überlebenden des Holocaust brauchten Erinnerung, sagt die Schoah-Überlebende Eva Szepesi. Sie beklagt in der Gedenkstunde des Bundestags für die Opfer des Nationalsozialismus ein „lautes Schweigen der Mitte der Gesellschaft“ und Gespräche mit „Ja, aber“.
Mittwoch, 31.01.2024, 14:30 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 31.01.2024, 14:30 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
In der Gedenkstunde des Bundestags für die Opfer des Nationalsozialismus haben die Holocaust-Überlebende Eva Szepesi und Marcel Reif als Sohn eines Überlebenden zu mehr Menschlichkeit und Widerspruch gegen Rassismus aufgerufen. „Wer schweigt, macht sich mitschuldig“, sagte Szepesi im Bundestag mit Verweis auf erstarkenden Judenhass und Rechtsextremismus. „Die Schoah begann nicht mit Auschwitz, sie begann mit Worten – und sie begann mit dem Schweigen und dem Wegschauen der Gesellschaft“, sagte die 91-Jährige, die das Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau überlebte. Marcel Reif appellierte mit den Worten seines Vaters an die Parlamentarier: „Sei ein Mensch.“
Der bekannte Sportjournalist erzählte in seiner Rede davon, dass sein Vater, ein polnischer Jude, der aus einem Deportationszug der Nazis gerettet wurde, nie über das Erlebte sprach. „Wir sollten, wir durften nicht in jedem Postboten, Bäcker, Straßenbahnfahrer einen möglichen Mörder unserer Großeltern vermuten“, sagte Reif, dessen Großeltern von den Nationalsozialisten ermordet wurden. Diesen „warmen, kuscheligen Mantel des Schweigens“ habe er angenommen, später aber verstanden, dass sein Vater doch gesprochen und ein Vermächtnis in diesem Satz hinterlassen habe: „Sei ein Mensch.“
Hunger und Atemnot im Viehwaggon
Über den Schrecken des Holocaust sprach die aus Ungarn stammende Szepesi in der Gedenkstunde des Bundestags, zu der traditionell auch Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und die Vertreter aller weiteren Verfassungsorgane gekommen waren. Nachdem die Nazis Ungarn besetzt hatten, schickte Szepesis jüdische Mutter die damals 11-Jährige mit der Tante auf die Flucht, in der Hoffnung, dass sie den Deportationen entkommen könnte. Ende 1944 wurde sie dennoch deportiert. „Im überfüllten Viehwaggon wurde die Luft immer weniger, mein Hunger immer quälender, meine Angst immer größer“, schilderte sie das Grauen.
Szepesi, inzwischen 12 Jahre alt, kommt nach Auschwitz, gibt sich dort als 16-Jährige aus und erlebt die Befreiung durch die sowjetische Armee völlig entkräftet auf einer Liege im Vernichtungslager. „Irgendwann spürten meine vom Fieber brennenden Lippen eine Hand, die mich mit kaltem Schnee fütterte“, berichtete sie: „Es war der 27. Januar 1945 – und ich lebte.“ Erst Jahre später erfuhr sie, dass ihre Mutter und ihr damals achtjähriger Bruder wenige Monate vor ihr nach Auschwitz gebracht und sofort nach der Ankunft in der Gaskammer ermordet wurden.
Appelle in diesem Jahr noch eindringlicher
Seit der damalige Bundespräsident Roman Herzog den Jahrestag der Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz zum Gedenktag erklärt hatte, findet rund um das Datum die Gedenkstunde im Bundestag statt. Immer wieder ist sie Anlass, zu Aufmerksamkeit und Widerstand gegen neue Formen von Intoleranz und Menschenfeindlichkeit aufzufordern.
Vor dem Hintergrund des starken Zuspruchs der rechtsextremen AfD, Berichten über Pläne rechtsextremer Netzwerke zur Vertreibung von Menschen mit Zuwanderungsgeschichte aus Deutschland und dem Anstieg antisemitischer Angriffe in Deutschland seit dem Überfall der Hamas auf Israel fielen die Appelle in diesem Jahr noch eindringlicher aus.
„Lautes Schweigen der Gesellschaft“
Szepesi sagte, sie wünsche sich, dass nicht nur an Gedenktagen und nicht nur an die ermordeten Opfer des Holocaust erinnert werde, sondern auch an die Überlebenden. „Sie brauchen jetzt Schutz.“ Sie beklagte ein „lautes Schweigen der Mitte der Gesellschaft“ und „Gespräche, die mit ,Ja, aber‘ beginnen“. Erst 50 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs begann Szepesi, über ihre Erlebnisse zu sprechen. Nie sei es wichtiger gewesen als jetzt, Zeugnis abzulegen, sagte sie vor dem Bundestag, „denn ,Nie wieder‘ ist jetzt“.
Bundestagspräsidentin Bärbel Bas (SPD) sagte, das „Nie wieder“ bleibe ein Auftrag für die gesamte Gesellschaft, unabhängig davon, was die eigenen Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern getan und erlitten hätten – „oder wo sie herkommen“. Judenhass sei kein Problem nur der Vergangenheit. „Antisemitismus ist ein Problem der Gegenwart“, sagte Bas. (epd/mig) Aktuell Panorama
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