„Wir machen weiter“
Tausende gedenken in Hanau der Opfer des rassistischen Anschlags
Bei einer Demonstration kurz vor dem vierten Hanau-Jahrestag erinnern die Teilnehmenden an die Toten - und wollen ein Zeichen setzen. Die Form des Gedenkens steht ebenso in der Kritik, wie die Politik. Ataman: Hinterbliebene fühlen sich alleingelassen. Die Polizei ermittelt wegen eines Hitlergruß - am Rande der Demo.
Sonntag, 18.02.2024, 15:00 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 18.02.2024, 15:09 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Kurz vor dem vierten Jahrestag des rassistischen Anschlags von Hanau haben am Samstag mehrere Tausend Menschen in der Stadt der Opfer gedacht und gegen Rassismus und Rechtsextremismus demonstriert. „Hanau – das war Mord. Widerstand an jedem Ort“, skandierten Teilnehmende bei dem Protestzug. Die nach Angaben der Polizei rund 5.000 Menschen hatten sich im Stadtteil Kesselstadt in der Nähe eines der beiden Tatorte versammelt und zogen dann – mit einem Zwischenstopp an dem anderen Tatort – weiter Richtung Marktplatz.
Bei der dortigen Abschlusskundgebung forderten Rednerinnen und Redner Konsequenzen aus dem Anschlag. „Wir geben keine Ruhe, bis es eine lückenlose Aufklärung gibt und politische Verantwortung übernommen wurde“, sagte Newroz Duman von der Initiative 19. Februar, in der sich Angehörige und Betroffene des Anschlags sowie Unterstützer zusammengeschlossen haben. Die offizielle Gedenkstunde des Landes Hessen und der Stadt findet an diesem Montag (11.00 Uhr) auf dem Hanauer Hauptfriedhof statt.
Am 19. Februar 2020 hatte ein 43-jähriger Deutscher neun Menschen mit Einwanderungsgeschichte erschossen und weitere verletzt. Anschließend erschoss er seine Mutter und nahm sich selbst das Leben. Der Vater des Täters lebt bis heute in Hanau.
Bruder von Anschlagsopfer: „Wir machen weiter“
Bei der Abschlusskundgebung schilderten Angehörige der Opfer ihren Verlust, ihr Leid und ihre Wut und warnten vor einem zunehmenden Rechtsextremismus und Rassismus in Deutschland. Çetin Gültekin, dessen Bruder Gökhan bei dem Anschlag getötet wurde, verwies auf einen wachsenden Zulauf für die AfD, der mittlerweile größer sei als vor vier Jahren. „Wir müssen uns fragen: Was machen wir falsch?“ Er rief zu einem entschiedenen Vorgehen gegen Rechtsextremismus auf. Es müsse bei der Aufarbeitung des Anschlags zudem Schluss sein mit „Vertuschung, Ausreden und Lügen“, forderte Gültekin. „Erinnern heißt verändern“, betonte er und schloss seine Rede mit den Worten: „Wir machen weiter.“
Wie viele andere Rednerinnen und Redner kritisierte Ajla Kurtovic, die Schwester des Anschlagsopfers Hamza Kurtovic, die Arbeit des Untersuchungsausschusses des hessischen Landtags zu dem Anschlag. Der Ausschuss, der im Dezember seinen Abschlussbericht vorgelegt hatte, habe zwar Behördenversagen aufgedeckt, sei aber ohne politische Folgen geblieben. „Veränderung kann es nur geben, wenn es Aufklärung und Gerechtigkeit gibt“, sagte sie.
Kein offizielles Gedenken wegen „Undankbarkeit“?
Emis Gürbüz, die Mutter des getöteten Sedat Gürbüz, kritisierte, dass es in diesem Jahr kein offizielles Gedenken gemeinsam mit den Familienmitgliedern und Freunden auf dem Marktplatz gebe, weil bei der Veranstaltung im vergangenen Jahr Reden von Angehörigen von offizieller Seite als „undankbar empfunden“ wurden. Zugleich bekräftigte sie die Forderung nach einem dauerhaften Mahnmal auf dem Marktplatz. Diesen Standort hält die Stadt jedoch für ungeeignet und favorisiert ein Mahnmal am geplanten Zentrum für Demokratie und Vielfalt wenige Gehminuten vom Tatort Heumarkt entfernt.
Der Hanauer Oberbürgermeister Claus Kaminsky (SPD) wies auf Anfrage den Vorwurf zurück, dass Ärger über Undankbarkeit der Grund für die diesjährige Form des offiziellen Gedenkens gewesen sei. Dem sei nicht so, sagte er. „Alles muss seinen Platz haben. Wir finden die Balance“, sagte er und verwies auf die zahlreichen Veranstaltungen in der Stadt rund um den 19. Februar, die in diesem Jahr angeboten werden.
Faeser erinnert an die Opfer
Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) hat ebenfalls an die neun Todesopfer des rassistischen Anschlags in Hanau vor vier Jahren erinnert. Die Mahnung, die aus dem rassistischen Terror vor vier Jahren in Hanau folge, könne nicht aktueller sein, sagte Faeser am Sonntag in Berlin. Diese Mahnung heiße: „Alle demokratischen Kräfte müssen die Bedrohung, die der Rechtsextremismus für viele Menschen in unserem Land bedeutet, ernst nehmen und handeln.“
Auf die Angst und die Ausgrenzung, die Rechtsextreme verbreiteten, müsse mit mehr Menschlichkeit und Solidarität geantwortet werden. „Mehr als 20 Millionen Menschen in unserem Land haben eine Einwanderungsgeschichte. Nicht wenige fragen sich in diesen Tagen nach den Enthüllungen über rechtsextreme Netzwerke und ihre Vertreibungsfantasien, ob sie in Deutschland noch sicher sind. Die Antwort darauf kann nur sein: Wir schützen euch, wir stehen an eurer Seite!“
Ataman: Hinterbliebene fühlen sich alleingelassen
Die Bundesbeauftragte für Antidiskriminierung, Ferda Ataman, hat scharfe Kritik am Umgang mit Hinterbliebenen und Betroffenen geübt. Der Anschlag habe gezeigt, wie akut die Bedrohung durch Rechtsextreme sei, sagte Ataman den Zeitungen der Funke Mediengruppe. Staat und Behörden hätten die Pflicht, daraus Konsequenzen zu ziehen, damit sich solche Taten nicht wiederholen. „Leider muss man sagen: Deutschland hat darin bisher versagt.“ Auch vier Jahre nach dem Terroranschlag fühlten sich viele Betroffene und Angehörige von den Institutionen alleingelassen.
Noch immer gebe es keine offizielle Entschuldigung des hessischen Innenministers für die dokumentierten Fehler der Polizei im Kontext des Anschlages, hob Ataman hervor. „Noch immer gibt es kein offizielles Mahnmal für die Opfer auf dem zentralen Marktplatz der Stadt. Noch immer werden Angehörige vom Vater des Täters drangsaliert.“
FDP blockiert Demokratiefördergesetz
Ataman mahnte mehr Sensibilität von den Parteien der Mitte an. Der Zusammenhang zwischen migrationsfeindlichen Debatten und Rassismus müsse allen klar sein, sagte sie. „Man kann kritische Migrationsdebatten führen, ohne Muslime und Migranten zu Sündenböcken für die Probleme im Land zu erklären. Trotzdem geschieht genau das immer wieder.“ Menschen mit Migrationsgeschichte würden auch nach dem Anschlag von Hanau „noch öffentlich stigmatisiert“. Das müsse ein Ende haben. „Migration und Vielfalt gehören zu Deutschland wie die Bratwurst und Schrebergärten“, betonte die Antidiskriminierungsbeauftragte.
Im geplanten Demokratiefördergesetz sieht Ataman ein zentrales Instrument zur Extremismusprävention. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) und Bundesfamilienministerin Lisa Paus (Grüne) wollen mit dem Vorhaben eine verlässliche finanzielle Grundlage für Träger politischer Bildung und von Projekten schaffen, die sich für die Stärkung von Demokratie, Akzeptanz von Vielfalt und Extremismusprävention einsetzen. Doch um das Gesetz gibt es Streit. Die FDP-Bundestagsfraktion will ihm ohne eine Extremismusklausel nicht zustimmen. „Gerade jetzt, in diesen Tagen, ist das ein beschämendes Signal an Millionen von Menschen, die sich in Deutschland gegen Extremismus engagieren“, sagte Ataman
Autofahrer soll Hitlergruß gezeigt haben
Am Rande der Demonstration gab es laut Polizei einen Zwischenfall. Wenige Hundert Meter vom Versammlungsort der Demonstrierenden im Stadtteil Kesselstadt entfernt soll ein Mann aus einem Auto heraus einen zum Hitlergruß gesteckten Arm gezeigt haben. Der Verdächtige sei ermittelt. Gegen ihn sei ein Strafverfahren eingeleitet worden, teilte die Polizei mit. (epd/dpa/mig) Aktuell Panorama
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