Rassismus
Eine Frage der Perspektive
Wenn das Ziel sein soll, Rassismus zu bekämpfen, müsste auch benannt werden, worum es geht, nämlich den Kampf gegen weiße Vorherrschaft – als global wirksame Machtmatrix.
Von Prof. Dr. Isabelle Ihring Montag, 22.04.2024, 10:22 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 22.04.2024, 10:22 Uhr Lesedauer: 10 Minuten |
Der durch das Journalist:innen-Kollektiv „Correctiv – Recherchen für die Gesellschaft“ enthüllte Plan von AfD-Politiker:innen, Neonazis, finanzstarken Unternehmern und weiteren rechtskonservativen Akteur:innen zur Vertreibung von Millionen nicht-weißen1 (und besonders die nicht assimilierten unter ihnen) Menschen aus Deutschland haben breite Empörung in der deutschen Gesellschaft ausgelöst. Für Menschen, die hier täglich Rassismus erfahren, waren sie hingegen nicht sehr überraschend: Politische und mediale Diskurse rund um Migration und Flucht, aber auch um Menschen mit so genanntem Migrationshintergrund, sind seit vielen Jahren stark rassistisch geprägt – und dies keinesfalls nur am rechten Rand (siehe u.a. die Mitte-Studie).
Die Reaktionen auf diese Pläne waren eine Vielzahl an sehr gut besuchten Demonstrationen, in der die Menschen darauf aufmerksam gemacht haben, dass sie nicht hinter diesen Plänen stehen. In einer demokratischen Gesellschaft sind solche solidarischen Reaktionen wichtig, vor allem für Menschen, die von diesen Deportationsplänen betroffen sind, was auch positiv zur Kenntnis genommen wurde. Gleichzeitig sind die Zweifel an der Überwindung dieser rassistischen Ideologien bei Menschen groß, die sich nicht erst seit der Veröffentlichung der Deportationspläne Sorgen um sich und die Sicherheit ihrer Kinder in Deutschland machen. Im Rahmen der Demonstrationen wird zwar betont, dass Rassismus keinen Platz in der deutschen Gesellschaft hat. Doch welches Verständnis von Rassismus liegen diesen Diskussionen und Beteuerungen zugrunde?
„Die Geschichte des Rassismus in Deutschland reicht aber sehr viel weiter zurück als die, auf die die Nazis zurückgegriffen, um Menschen, die nicht in ihre Ideologie passten, systematisch zu entmachten, zu entmenschlichen, zu vertreiben und zu vernichten.“
Es ist immer wieder zu beobachten, dass ein Sprechen über Rassismus schnell bei den so genannten Anderen und deren vermeintlichen Eigenschaften und Defiziten landet, anstatt über Weißsein und damit verbundener vermeintlicher ‚Überlegenheit‘ zu sprechen. Häufig wird Rassismus in Deutschland auch im Zusammenhang mit dem Nationalsozialismus erwähnt („Ich bin doch kein Nazi!“ oder „Das sind doch Nazis!“), womit suggeriert wird, dass Rassismus eine Erfindung der Nationalsozialisten war. Die Geschichte des Rassismus in Deutschland reicht aber sehr viel weiter zurück als die, auf die die Nazis zurückgegriffen, um Menschen, die nicht in ihre Ideologie passten, systematisch zu entmachten, zu entmenschlichen, zu vertreiben und zu vernichten.
Die Geschichte von Rassismus als Instrument der Entmenschlichung der sogenannten Anderen beginnt in der Zeit europäischer Expansion und der damit verbundenen Kolonisierung der Welt. Die Geschichte Europas ist unmittelbar verknüpft mit jenen Kolonisationsprozessen, die genauso zur systematischen Entmenschlichung, Verdrängungen, Ausbeutungen und Vernichtung kolonisierter Subjekte geführt haben. Oder wie Achille Mbembe schreibt, ist die Vorstellung einer vermeintlich weißen europäischen Norm von Beginn an davon geprägt, dass alle „nicht-europäischen Völkerschaften mit einem minderen Sein geschlagen sind“ (Mbembe 2017: 42).
„Über die Jahrhunderte wurde eine vermeintlich weiße Norm etabliert, der Menschlichkeit zugeschrieben wurde, während der Rest mehr oder weniger als unmenschlich konstruiert wurde.“
Über die Jahrhunderte wurde eine vermeintlich weiße Norm etabliert, der Menschlichkeit zugeschrieben wurde, während der Rest mehr oder weniger als unmenschlich konstruiert wurde. Die mit der Kolonisierung angefangene und zunehmend weiterentwickelte ‚Erforschung‘ kolonisierter Subjekte durch Europäer:innen beruht auf einem europäischen Denken, dem „in seiner gesamten Geschichte die Tendenz innewohnte, Identität nicht im Sinne gemeinsamer Zugehörigkeit zu ein und derselben Welt zu verstehen“ (Mbembe 2017: 11). Dieses vermeintlich ‚objektive Wissen‘ zu ‚den Anderen‘ überdauerte Jahrhunderte, hat sich in die Köpfe der Menschen gebrannt und ist bis heute abrufbar.
Trotz der vielen nicht-weißen Aktivist:innen, Theorien wie Critical Whiteness oder postkolonialen Ansätzen verharrt die Thematisierung von Rassismus noch viel zu oft in einem Sprechen über ‚die Anderen‘, anstatt Rassismus konsequent als weiße Vorherrschaft (vgl. Arndt 2017) zu thematisieren. Wenn das Ziel von Demonstrationen sein soll, gegen Rassismus aufzustehen und diesen zu bekämpfen, müsste aus meiner Sicht auch benannt werden, um was es geht, nämlich den Kampf gegen weiße Vorherrschaft – als global wirksame Machtmatrix. Ich bezweifle, dass dieses Verständnis von Rassismus den Großteil der Demonstrierenden antreibt auf die Demos zu gehen. Aber gegen Nazis zu sein, ist vermutlich einfacher als sich selbst und seine Privilegien zu reflektieren und Wege zu suchen, sie abzulegen.
„Während Menschen zu Tausenden auf die Straße gehen, um gegen die Deportationspläne der AfD zu demonstrieren, werden weitere Asylrechtsverschärfungen beschlossen.“
Während Menschen zu Tausenden auf die Straße gehen, um gegen die Deportationspläne der AfD zu demonstrieren, werden weitere Asylrechtsverschärfungen beschlossen. Die fortschreitende Entmenschlichung von geflüchteten Menschen in öffentlichen, medialen und politischen Diskursen ist genauso Ausdruck von Rassismus wie die Deportationspläne. Wir werden derzeit Zeug:innen, wie Rassismus an den EU-Außengrenzen mit staatlicher Gewalt (Abschiebungen, Abschiebehaft, verschärfte Grenzkontrollen, mehr Geld für Frontex) durchgesetzt wird und nicht-weiße Menschen davon abhalten soll, nach Europa zu kommen. Maßnahmen, die wiederum dazu führen, dass nicht-weiße Menschen einer unmenschlichen Politik ausgesetzt sind, Monate oder Jahre in Flüchtlingslagern an den Ost- und Südgrenzen der EU verbringen und/oder im schlimmsten Fall sterben. Diese rassistischen ‚Maßnahmen‘, werden von der Mehrheit der Gesellschaft als legitim akzeptiert und deshalb hingenommen. Nur wenige empören sich.
Wo vor 400 Jahren Europäer:innen afrikanische Menschen mit großen Schiffen deportiert und buchstäblich als Waren verkauft haben, die für den Wohlstand der Europäer:innen schuften sollten, werden heute Schlauchboote mit nicht-weißen Menschen auf tödliche Weise davon abgehalten, Europa zu erreichen. Die Zusammenhänge zwischen kolonialer Expansion, Entmenschlichung kolonisierter Subjekte und dem darauf aufbauenden Wohlstand ehemaliger Kolonialmächte liegen auf der Hand. Auch die Gewöhnung an das Leid ‚der Anderen‘ und die damit verbundene mangelnde Empathie mit nicht-weißen Menschen zeigt sich im Umgang mit Geflüchteten und ist Ausdruck weißer Vorherrschaft – nur, dass die menschenverachtende Politik an den EU-Außengrenzen keine Massen motiviert, sich gegen diese Politik öffentlich auf Demonstrationen zu positionieren.
„Ob nun der Umgang mit Geflüchteten oder der geheime Plan, sich aller nicht-weißen Menschen innerhalb Deutschlands zu entledigen, es handelt sich um rassistische Praktiken und Phantasien, die auf der jahrhundertelangen Abwertung nicht-weißen Lebens beruht.“
Ob nun der Umgang mit Geflüchteten oder der geheime Plan, sich aller nicht-weißen Menschen innerhalb Deutschlands zu entledigen, es handelt sich um rassistische Praktiken und Phantasien, die auf der jahrhundertelangen Abwertung nicht-weißen Lebens beruht und der daraus hervorgegangenen Vorstellung von weißen als ‚überlegen‘ und einem Europa als ‚modern‘, das vor ‚den Anderen‘ geschützt werden muss. Angesichts der europäischen Gewaltherrschaft über die Kolonisierten ist die Besorgnis um den Schutz Europas geradezu verwunderlich. Mir stellt sich eher die Frage, wer die ehemals kolonisierten Länder endlich vor europäischem Neokolonialismus schützt?
Hier in Ghana, wo ich mich nun seit fast drei Monaten befinde, ist die koloniale Geschichte und deren neokolonialen Auswirkungen bis heute allgegenwärtig und im Leben und Alltag der Menschen sichtbar verankert, alleine schon wegen der vielen Deportationshäfen entlang der gesamten Küste, von wo Millionen von Menschen afrikanischer Herkunft in die Amerikas verschleppt, versklavt und verkauft wurden. Sehr viele von diesen Menschen sind bereits auf dem Weg vom Inneren Afrikas zu den Küsten oder während des Transportes gestorben. Ihre gesamte Geschichte, ihre Namen, ihre Herkunft, ihre Sprachen sind unwiederbringlich verloren. Kaum eine Facette des Lebens hier kann ohne Kolonialgeschichte, die auch von deutschen Kolonialherren geprägt war, erzählt oder verstanden werden. Die Menschen hier sprechen sehr offen über diese Folgen der weißen Überlegenheit, die tiefe Spuren und Narben in diesem Land und dem gesamten Kontinent hinterlassen hat. Sie sprechen offen über die systematische anhaltende Benachteiligung – weltweit – von Menschen afrikanischer Herkunft.
Eine Reaktion der ghanaischen Regierung auf die Geschichte der Entmenschlichungen von Schwarzen Leben war das im Jahr 2019 (400 Jahre nachdem das erste Sklavenschiff in den USA angekommen ist) ausgerufene Year of Return, das zur Decade of Return geworden ist. Mit diesem Aufruf richtet sich die Regierung an die Nachfahren versklavter Menschen nach Ghana zu kommen, um sich hier mit Unterstützung ein neues Leben aufzubauen. Es handelt sich um ein Angebot, das auch viel kritisiert wird u.a., weil die Rückkehrer:innen deutlich mehr Unterstützung erfahren als jede:r andere Ghanaer:in. Dennoch ist es ein Angebot, das auf die anhaltende und systematische Entmenschlichung von Schwarzem Leben reagiert und darauf abzielt, Schwarzen Menschen einen sicheren Hafen zu bieten.
„Währenddessen gewinnt in Deutschland eine offen rassistische Partei scheinbar unaufhaltsam Zuwachs, das Asylrecht wird Schritt für Schritt abgeschafft und die Zahl nicht-weißer Menschen nimmt zu, die sich fragen, was eine Alternative zum Leben in Deutschland sein könnte.“
Währenddessen gewinnt in Deutschland eine offen rassistische Partei scheinbar unaufhaltsam Zuwachs, das Asylrecht wird Schritt für Schritt abgeschafft und die Zahl nicht-weißer Menschen nimmt zu, die sich fragen, was eine Alternative zum Leben in Deutschland sein könnte. Gepaart mit den zunehmenden medialen und politischen Angriffen auf postkoloniale Perspektiven wächst bei mir und vielen anderen die Unsicherheit, in Deutschland weiterhin sicher leben und arbeiten zu können, deutlich.
Vermehrt Artikel lesen zu müssen, in denen ganz vereinfacht von ‚den Postkolonialen‘ gesprochen wird, womit außen vorgelassen wird, dass es sich um international anerkannte Forschungs- und Theorietraditionen handelt, die in einer Vielzahl in unterschiedlichen Disziplinen verankert sind, ist irritierend. Die in diesen Artikeln sich häufig wiederfindende sinnwidrige Gleichsetzung von Postkolonialen Studien mit Antisemitismus wird nicht nur der interdisziplinären Pluralität dieser Forschungsrichtungen nicht gerecht, sondern sie führt auch zur Bedrohung von Wissenschaftsfreiheit – dies in Zeiten, in denen die AfD durch diverse Anfragen im Bundestag und darüber hinaus das Feld der Postkolonialen Studien in gezielter Zerstörungsabsicht angreift.
Postkoloniale Forschungen haben zur historischen und wissenschaftlichen Aufarbeitung der Verbrechen des Kolonialismus zentrale Beiträge geleistet. Sie verweisen ausdrücklich auf Kontinuitäten von Kolonialismus und Holocaust und liefern damit auch wertvolle Einsichten, sowohl für die Rassismus- als auch für die Antisemitismusforschung. Die historische und wissenschaftliche Aufarbeitung der unterschiedlichen Kolonialgeschichten, die Analyse globaler Ungleichheits- und Ausbeutungsverhältnisse, die sich bis heute aus kolonialen Beziehungen ergeben, der Einsatz für die Anerkennung und Aufarbeitung von Gewaltgeschichten und/oder für ein Selbstbestimmungsrecht der Völker – all diese wichtigen Arbeitsfelder werden durch diese pauschalen Diskreditierungen abgewertet.
„Die pauschale Diskreditierung dieser Perspektiven lese ich als Versuch, nicht-weiße Perspektiven aus dem Diskurs zu verbannen mit dem Ziel die Deutungshoheit über Rassismus und koloniale Kontinuitäten wieder weißen zu überlassen.“
Diskreditierungen, die auch international wahrgenommen werden und dazu führen, dass Kooperationspartner:innen, u.a. aus afrikanischen Ländern nicht mehr nach Deutschland kommen wollen. Dies zeigt, dass die Diskreditierung dieser internationalen Perspektiven zur Folge haben kann, Deutschland als Wissenschaftsstandort von internationalen Forschungsfeldern abzuschneiden und auch in Zukunft einen deutschlandzentrierten Diskurs fortzuführen, der losgelöst von anderen Verbrechen gegen die Menschheit stehen bleiben soll. Die pauschale Diskreditierung dieser Perspektiven lese ich als Versuch, nicht-weiße Perspektiven aus dem Diskurs zu verbannen mit dem Ziel die Deutungshoheit über Rassismus und koloniale Kontinuitäten wieder weißen zu überlassen. Pauschale Verteufelungen oder gar Verbote von kritischen Wissenschaften wie postkolonialen Theorien oder Critical Whiteness werden aber nicht dazu führen, dass diese verschwinden oder nicht-weiße Menschen aufhören, für die Anerkennung ihrer Perspektiven zu kämpfen. Sie werden auch das Rassismusproblem in Deutschland nicht kleiner machen – im Gegenteil: diese pauschalen Diskreditierungen spielen genau den Menschen in die Hände, die uns alle am liebsten deportieren wollen.
Arndt, S. (2017). Rassismus. Eine viel zu lange Geschichte. In Fereidooni/El (Hrsg.), Rassismuskritik und Widerstandsformen (S. 29-45). Wiesbaden: Springer VS.
Mbembe, A. (2017): Kritik der Schwarzen Vernunft. Berlin: Suhrkamp Verlag.
Info: Dieser Beitrag ist eine Kooperation von MiGAZIN mit dem Netzwerk Rassismuskritische Migrationspädagogik Baden-Württemberg, das unter dem Dach von adis e.V. Antidiskriminierung – Empowerment -Praxisentwicklung organsiert ist. Das Netzwerk versteht sich als Forum von Menschen aus den Feldern Soziale Arbeit, Schule, Bildung/Weiterbildung, Hochschule sowie angrenzenden Professionen, die sich fachlich und (fach-)politisch in den Feldern Soziale Arbeit, Schule, Weiterbildung – und auch darüber hinaus – einmischen und dort Rassismus selbststärkend, reflexiv-kritisch und wenn nötig auch skandalisierend zum Thema machen. Das Netzwerk informiert Interessierte in regelmäßigen Abständen von circa zwei Monaten per E-Mail-Newsletter über aktuelle Entwicklungen, Veranstaltungen und Publikationen im Feld der Migrationspädagogik.
- Mir ist bewusst, dass ich mit der Einteilung weiße/nicht-weiße Binaritäten bediene, die intersektional mit vielen weiteren Differenzkategorien verbunden sind und vom gesellschaftlichen Kontext abhängen. In diesem Text soll es jedoch um weiße Vorherrschaft gehen, unter der nicht-weiß gelesene Menschen als ‚weniger menschlich‘ gelten.
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