Ansichten & Aussichten
Mama Africa
Eine Reise, zwei Schlüsselmomente: Wie ein Augenblick der Akzeptanz die Jahre des Ausschlusses sichtbar machte – sofort, einfach so, an der Grenze: Willkommen zu Hause.
Von Miriam Rosenlehner Mittwoch, 12.06.2024, 10:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 12.06.2024, 10:25 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
Ich wusste nicht, wie sich das anfühlt. Fühlt ihr euch jeden Tag so? Wisst ihr das überhaupt? Weil ich wusste es nicht. Es ist ein Gefühl, wie die Füße auf den Boden bekommen. Mein Herz ist ganz warm. Alle Muskeln entspannen sich. Ich dehne mich aus. Ich richte mich auf. Es wäre nicht schlimm, jetzt zu sterben. Ich bin da, wo ich hingehöre.
Aber von vorne. In Deutschland ist es noch kalt, morgens um 6 Uhr. Wir sind eigentlich pünktlich am Flughafen, aber vor uns am Schalter ist eine endlose Schlange. Als wir nach einer Stunde die Koffer abgegeben haben und durch das Gebäude zu Gate C gehetzt sind, stehen wir schon in der nächsten Schlange, die den kompletten Vorraum füllt. Klar. Es ist Urlaubszeit. Endlich ist die letzte Kontrolle in Sicht. Alles in Plastikwannen, Scannerhampelmann machen, das Handgepäck kommt am anderen Ende wieder raus, gleich geschafft.
„So rein vom Hinsehen könnte ich alles sein: Sintizze oder Romnja, Palästinenserin, Afrikanerin, Araberin. Aber in jedem Fall, je nach Nachrichtenlage, eine, die man kontrollieren muss.“
Dann, ach ja, vergessen, ich bin ja die, die immer die Extrabehandlung bekommt. So rein vom Hinsehen könnte ich alles sein: Sintizze oder Romnja, Palästinenserin, Afrikanerin, Araberin. Aber in jedem Fall, je nach Nachrichtenlage, eine, die man kontrollieren muss. Zugegeben, heute testen sie wie die Wilden auf Sprengstoff, nicht nur mich, wie sonst immer. Europa hat gerade mehr Angst. Und natürlich bin auch ich wieder dran. Ich glaube eigentlich, dass ich da mittlerweile drüberstehe.
Der mittsechziger Kontrolleur schlurft mit seinem weißen Sprengstofftestplättchen-gegen-die-Angst die zwei Meter zu meinem Handgepäck, streicht in Zeitlupe darüber. Er sieht mich an, sagt mir irgendwas, was ich schon wieder vergessen habe, eine Antwort hätte es darauf jedenfalls nicht gebraucht. Wir haben’s eilig, ich sag’ einfach nichts, der Typ sucht sowieso Streit. Aber es ärgert ihn, dass ich mich nicht mit ihm unterhalte, er schnauzt mich an: Versteh’n Sie mich? Ich bin in Deutschland-hab-Acht-Stellung und nuschle: Ja, wir haben es nur sehr eilig. Das sind seine 5 Minuten Macht, er schlurft wieder ganz langsam zu mir, das weiße Sprengstoffpapierchen in seiner Hand ist gerade nicht ganz so wichtig, wie mir die Meinung zu sagen: Ach, eilig haben Sie’s? Soso.
„Günthers 5 Minuten Macht, die immer auf die Kosten von Leuten wie mir gehen.“
Er fügt irgendwas Ähnliches an wie, dass hier alles seine Ordnung haben muss. Kann aber sein, dass ich diesen Teil nicht ganz korrekt erinnere. Dafür hat er den Weg von meinem Rucksack bis zu mir auf sich genommen. Ich sage nicht: Ja danke, Günther. Ist ja alles wie immer hier. Geht’s dir jetzt besser? Günther weiß ja selbst, wie er ist, und er weiß, dass er das nur macht, weil ich es eilig habe und keine Zeit, ihn zur Rechenschaft zu ziehen. Günthers 5 Minuten Macht, die immer auf die Kosten von Leuten wie mir gehen.
Ich fliege nicht gerne. Aber als wir nach 3 Stunden in den Sinkflug gehen, taucht unter uns die rote Erde Nordafrikas auf. Ich werde ganz ruhig. Da. Der Kontinent liegt unter mir. Die Wüste beantwortet mir die ersten Fragen, die ich gar nicht gestellt habe. Sie ist einfach größer. Sie ist einfach größer als wir. Günther schrumpft. Seine hässlichen Gedanken, das kann ich schon aus dem Flugzeugfenster sehen, sind irrelevant, wenn du den Kontinent siehst. Sie sind so viel kleiner, als sie scheinen wollen. Ich wusste das schon vorher, aber fühlen konnte ich es nicht. Ich weiß schon lange, dass die Günthers mit ihrer Verachtung und ihrer Angst kleine arme Gartenzwerge sind. Aber fühlen konnte ich es nicht. Ich bin wie Gulliver und die Günthers sind die Zwerge. Sie sind so viele, sie binden mich auf dem Boden fest und ich kann mich nicht wehren. Ich kann mich nicht bewegen. Ich kann nicht atmen. Ich stemme mich mit meiner ganzen Kraft dagegen, aber sie kommen aus allen Richtungen mit ihren Garnen des Zorns. Mit ihren Bindfäden aus Hochmuth, aus selbstgerechter Ahnungslosigkeit und Angst. Hinter jeder Ladentheke steht ein Günther, an jedem Fahrkartenschalter ist eine Marianne, die mir ihre hässlichen Gedanken anhängen will, weil ihm oder ihr etwas fehlt im Leben, weil es vielleicht auch traurig ist, wenn die Welt so klein bleiben muss, damit man über sich selbst denken kann, man sei dem Rest der Welt überlegen.
„Ich weiß, dass wir alle aus Afrika kommen. Nur bei mir sieht man es auch.“
Wir fliegen tief und noch lange über die rote Erde. Meilenweit Erde, ohne dass man menschliche Spuren sieht. Das ist der Planet. Das ist, was es wirklich ist. Menschen sind klein und was sie denken, ist nur ein Staubkorn in der Wüste, denn wir sind nur ein ganz kleiner Teil von einem verdammt großen Ganzen. Dann kommt das Rollfeld in Sicht, wir sinken gemächlich. Als wir aufsetzen, dieser Moment, als das Gummi der Räder auf dem Asphalt zischt, als ich nach 30 Jahren wieder afrikanischen Boden unter mir habe, bekomme ich feuchte Augen. Ich habe gar nicht damit gerechnet, dass es mir so viel bedeutet.
Buchtipp: „Was uns Rassismus nimmt“ von Miriam Rosenlehner, Books on Demand, erschienen am 22. Juli 2022, 368 Seiten, ISBN-10: 375626954X
Ich drehe mich weg. Mein Mann soll es nicht sehen. Ist es nicht immer etwas Trennendes, wenn ich mit diesen Dingen zu tun habe und er dem einfach nicht folgen kann, weil er es nicht selbst erlebt? Und ist es nicht ein bisschen albern? Als ob Erde etwas ausmachen würde. Ich weiß, dass wir alle aus Afrika kommen. Nur bei mir sieht man es auch. Ich weiß, dass wir alle dieselben Gene haben. Ich weiß, dass ich nicht hierhergehören kann, ich spreche nicht Arabisch, ich bin hier nicht geboren, ich habe nichts von dem, was mich zugehörig machen könnte.
„Die Sonnenurlauber scheinen es für selbstverständlich zu halten, dass sie völlig unbehelligt überall rein und wieder raus dürfen.“
Sobald wir das Flugzeug verlassen, ist da dieser Duft. Diese trockene, warme, weiche Luft. Ich erinnere mich daran. Wir holen unsere Koffer und stellen uns wieder in eine Schlange. Passport, Visum. Ich hasse Grenzen. Sie machen mir jedes Mal Angst. Man ist dort ausgeliefert. Den vielen Touristen in der Schlange aus Deutschland scheint es nicht so zu gehen wie mir. Sie klettern unter Absperrungen durch mit ihren Plastikschlappen und versuchen eine Abkürzung zu nehmen. Die Sonnenurlauber scheinen es für selbstverständlich zu halten, dass sie völlig unbehelligt überall rein und wieder raus dürfen. Dieses Gewohntsein von Privilegien, es irritiert mich.
Der Schalterbeamte hat einen Gebetsfleck auf der Stirn, eine dunkle Stelle, die Fleiß beim Beten andeutet. Ein Schmuck mit sozialer Bedeutung sozusagen. Als Westlerin bin ich unsicher, wie der Mann mich wahrnimmt. Er sieht meinen Pass an, blättert sorgfältig, sieht hoch: „Where do you come from?“, fragt er mich. „Germany“, antworte ich. „Yes, but, Papa, Mama …?“, hakt er nach. Es hört einfach nie auf, diese Fragen. Ich weiß nicht genau, worum es ihm geht. Grenzsituationen sind nichts für mich, er macht mich nervös und ich kann ihn nicht so einfach lesen wie Günther. Ich antworte kurz: „Eritrea, Germany“. Er sagt: „Ah, Africa.“ Dann sieht er mich eine Weile still an. Er reicht mir den Pass mit den Worten zurück: „You are in Africa now.“
So fühlt sich das also an. Er hat mich für Afrika beansprucht.
Ich bin jetzt auf meiner Erde. Meine Füße haben das verdammte Recht hier langzulaufen. Mein Hintern hat das verdammte Recht, sich genau hier hinzusetzen. Meine Schultern haben das Recht, sich zu entspannen. Mein Herz hat das Recht, weit zu werden. Es fühlt sich an, als wäre auf einmal Platz in meiner Brust, mein Herz darf so stark und lebendig sein, wie es gemacht ist. Mein Gesicht hat das Recht, den warmen Wind zu spüren. Meine Haare haben das Recht, sich zu kringeln, sogar in der Hotelanlage unter lauter Weißen dürfen sie das. Meine Haut darf dunkel sein und in der Sonne dunkler werden. Ich darf aufrecht gehen, weil ich hier Raum einnehmen darf. Das ist meine Erde. Ich darf hier so sein, wie ich bin.
„Afrikanischer Boden ist nicht deshalb meine Erde, weil das in meinen Genen steht. Es ist meine Erde, weil dort die Chance besteht, dazuzugehören. Sofort, einfach so, an der Grenze: Willkommen zuhause.“
Während ich das schreibe, habe ich Sorge, dass man mich missversteht. Afrikanischer Boden ist nicht deshalb meine Erde, weil das in meinen Genen steht. Es ist meine Erde, weil dort die Chance besteht, dazuzugehören. Sofort, einfach so, an der Grenze: Willkommen zuhause. Das ist etwas, das mir noch kein Günther in den letzten 50 Jahren vermittelt hat, mit seinem „verstehst du mich“ oder „wo kommst du denn her“ oder irgendeiner der anderen Abgrenzungschoreographien, die so üblich sind.
Geh doch nach Hause nach Afrika, wenn dir was nicht passt, scheint mir Günther stattdessen aus meinem Unterbewusstsein zuzuflüstern. Ach weißt du, Günther, vielleicht mach’ ich das. Vielleicht mach’ ich das eines Tages. Meinung
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