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Dominique Haas, Migazin, Rassismus, Diskriminierung, Grenzschutz, Migration, Flucht
Dominique Haas © privat, bearb. MiG

Antirassistisch angestrichen

Klassismus konsequent als Ideologie begreifen

Klassismus ohne Kapitalismus zu denken, führt in die Belanglosigkeit. Es braucht einen Perspektivwechsel hin zur Ideologiekritik, um Klassismus als sinnvollen analytischen Begriff neu zu denken.

Von Mittwoch, 05.06.2024, 10:12 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 05.06.2024, 9:59 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Die Unzulänglichkeit des Klassismus-Begriffs hinsichtlich seines analytischen Gehalts und ontologischer Grundlage wurde vielfach, bereits 2014 von Christian Baron oder jüngst im Jacobin Magazin, erörtert: Klassismus wird im Rahmen von Antidiskriminierung und Intersektionalität als willkürliche Diskriminierungsform ohne ökonomische Grundlage konzeptualisiert. Es handelt sich also nur um eine Diskriminierungsform auf ideeller Ebene von vielen. Der Begriff und seine wissenschaftliche und mediale Aushandlung entbehren somit einer materialistisch-marxistischen Grundlage.

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Dieser Kritik schließe ich mich an. Statt dem Klassismus-Begriff jedoch eine allgemeine Absage zu erteilen, bedarf es einer Rekonzeptualisierung. Klassismus muss konsequent als ideologischer Überbau der kapitalistischen Ausbeutungsverhältnisse begriffen werden. Das bedeutet, dem Klassismus-Begriff eine materialistische Fundierung voranzustellen, um Phänomene von Klassismus in Politik und Medien deuten zu können. Vor allem innerhalb der diskriminierungskritischen politischen Bildung erachte ich eine materialistische Fundierung des Klassismus-Begriffs als besonders sinnvoll, um eine marxistische Gesellschaftsanalyse zu (re-)etablieren.

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Derzeit wird der Klassismus-Begriff vor allem im liberalen Antidiskriminierungs– und Intersektionalitätsdiskurs verwendet: Menschen in Arbeitslosigkeit, prekären Beschäftigungsverhältnissen und Armut werden diskriminiert. Dabei hat der liberale Klassismus-Begriff keinen Begriff von Klasse, weil er das Verhältnis von Kapital und Arbeit ignoriert, sondern Diskriminierung auf einer reinen Ideen-Ebene verhandelt. Unterschiedliche Diskriminierungsebenen sind also fast austauschbar, da es lediglich um die Verteilung von Privilegien und nicht um die materielle Produktion der Verhältnisse, die Diskriminierung überhaupt erst nach sich zieht, geht. Im liberalen Klassismus-Diskurs ist kein analytischer Platz für Dialektik und somit kein praktisches Interesse an der Umwälzung von Verhältnissen.

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„Wir lassen einfach diskriminierende Wörter fallen und schon ist wieder alles gut.“

Ähnlich verhält es sich mit dem von Bafta Sarbo und Eleonora Roldán Mendívil kritisierten liberalen Antirassismus. Diese Ignoranz gegenüber materiellen Verhältnissen erzeugt nicht bloß die Austauschbarkeit von Diskriminierungsformen, sondern führt schlimmstenfalls zu einer Stabilisierung der Verhältnisse. Denn so wie der Kapitalismus stellenweise antirassistisch angestrichen wird, kann er auch antiklassistisch bemalt werden. Wir lassen einfach diskriminierende Wörter fallen und schon ist wieder alles gut.

Warum also dennoch am Klassismus-Begriff festhalten? Klassismus als Beobachtungsebene ist genauso wie Rassismus real. Menschen werden massiv abgewertet, wenn sie wohnungslos oder arm sind. Diese sozialdarwinistische Tendenz, die Idee eines Rechts des Stärkeren, ist gesellschaftlich verbreitet und muss daher entsprechend verhandelt werden. Allerdings nicht als Hauptproblem, sondern als Symptom des Hauptproblems.

Wenn wir materielle Verhältnisse und diskursive Diskriminierung als real anerkennen, hilft der Blick in die Ideologiekritik der Frankfurter Schule. Ideologiekritik hat einen analytischen Anspruch und geht einfach gesagt der Frage nach, wie die materiellen Verhältnisse entsprechend diskursiv verargumentiert werden. Also, wie auf ideeller Ebene die materiellen Verhältnisse stabilisiert werden.

Wolfgang M. Schmitt weist beispielsweise in seiner Filmanalyse über „Chantal im Märchenland“ genau darauf hin, wie mit Stigmatisierung vor allem entlang von Sprachpraktiken die Klassenverhältnisse kulturell zementiert werden. Dabei steht diese Stigmatisierung in engem Verhältnis zur gesellschaftlichen Hegemonie der Meritokratie: Alle können es nach oben schaffen, wenn sie es nur wollen. Da manche Menschen jedoch (natürlich selbst gewählt) ungebildet sind, steht ihnen nur der letzte Platz zu. Somit stabilisieren und verschleiern meritokratische Hegemonie und klassistische Praktiken gleichzeitig die materiellen Ausbeutungsverhältnisse.

„Klassismus gegen die besitzende Klasse kann es nicht geben, weil sie besitzt.“

Um dieses Argument zu verstärken, lohnt sich der Blick in die andere Richtung: wenn Klassismus ohne materielle Verhältnisse als eine Diskriminierungsform von vielen gedeutet wird, könnte es auch Klassismus gegen die besitzende Klasse geben. So wie es mindestens einer historischen Fundierung des Rassismus-Begriffs bedarf, um Rassismus ausschließlich als Diskriminierung gegen BIPoCs (und nicht gegen Weiße) anzuerkennen, bedarf es einer materialistischen Fundierung, um die Dialektik der Besitz- und Ausbeutungsverhältnisse als ausschlaggebende Voraussetzung für klassistische Diskriminierung zu betrachten. Klassismus gegen die besitzende Klasse kann es nicht geben, weil sie besitzt. Mehr als ein bürgerliches Naserümpfen in der „heute show“ über die Ausschweifungen der Reichen ist nicht drin. Denn ihr Lebensstil, ihr Habitus ist der anzustrebende. Die besitzende Klasse hat durch ihre materiellen Verhältnisse eben jene bürgerliche Freiheit, um ihr Leben frei von Ausbeutungsverhältnissen zu gestalten.

Wie lässt sich das Verständnis von Klassismus als materiell fundierte Ideologie nun verbreiten? Der Klassismus-Begriff ist zwar im akademischen Kontext entstanden, aber findet zunehmend in der diskriminierungskritischen und intersektionalen politischen Bildung statt. In den parteinahen Stiftungen von SPD, Grünen und Linken, in der Bundeszentrale für politische Bildung und diversen kleineren Trägern (progressiver) politischer Bildung wird mit den Begriffen Diskriminierung und Intersektionalität gearbeitet. Da diese leider oft nur auf der ideellen und meist identitätspolitischen Ebene verhandelt werden, kann Klassismus als weitere Diskriminierungsebene einfach ergänzt werden, beispielsweise in der sog. Power flower. Da steht etwa die altersbezogene Diskriminierung auf gleicher Ebene wie der Klassismus.

„Klassismus ist materiell fundierte Ideologie.“

Um diesem Phantasma der Austauschbarkeit und mangelnden Einordnung entgegenzuwirken, braucht es folgende Erkenntnis: Klassismus ist materiell fundierte Ideologie. Immer wenn der Begriff Klassismus fällt, muss auf Ausbeutungsverhältnisse referiert werden! Immer wenn Klassismus ohne diese Referenz verhandelt wird, handelt es sich um eine nutzlose Debatte. Mit dieser Referenz auf die Ausbeutungsverhältnisse muss zunächst der marxsche Begriff der Ausbeutung definiert werden. Von dort ist der Weg zu Dialektik und Materialismus nicht weit.

So können Seminarleitungen und -teilnehmende ökonomische Grundlagen und Antikapitalismus zurück in die politische Bildung und langfristig in den politischen Diskurs holen, ohne reale Diskriminierung zu ignorieren. Von einer ideologiekritischen Fundierung des Klassismus-Begriffs könnte nicht zuletzt eine materialistische Verschiebung des Verständnisses von historisch tradierten Diskriminierungsformen wie Rassismus ausgehen.

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