Antimuslimischer Rassismus
Um die Menschen ging es noch nie
Drei antimuslimische Vorfälle pro Tag zählte Claim nach Oktober 2023. Regierende laufen Gefahr, die Betroffenen endgültig zu verlieren, wenn sie dieses Rassismus-Problem nicht bekämpfen.
Von Nursemin Sönmez Sonntag, 23.06.2024, 11:34 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 23.06.2024, 11:39 Uhr Lesedauer: 3 Minuten |
Die Europawahlen liegen gerade hinter uns, mit einem Ergebnis, das uns bei den „neuen deutschen organisationen“ (ndo) zwar nicht überrascht, aber trotzdem entsetzt hat. Die überwältigende, parlamentarische Legitimation einer rechtsextremen Partei in Deutschland ist ein weiterer Schritt in einer Entwicklung, die grassierende Probleme wie antimuslimischen Rassismus, antisemitische Übergriffe und rassistische Straftaten begünstigt, und im Resultat antidemokratische Tendenzen zementiert.
Die Claim-Allianz, ein Netzwerk zivilgesellschaftlicher Akteur:innen gegen Islam- und Muslimfeindlichkeit, dem die ndo angehört, hat über die vergangenen Jahre hinweg die Aktionswochen zu antimuslimischem Rassismus etabliert. In diesem Jahr finden sie vom 17. Juni bis zum 01. Juli unter dem Motto „Hinschauen und Handeln“ statt.
Gerade im Zusammenhang mit dem leider wieder eskalierten Konflikt in Gaza bekommen diese Aktionswochen eine sehr aktuelle Relevanz: Nach Oktober 2023 verzeichnete Claim allein im November durchschnittlich bundesweit drei antimuslimische Vorfälle pro Tag. In einem Fall wurde ein muslimisch gelesener Mann beim Verlassen eines Busses als „Terrorist“ bezeichnet, angegriffen und musste aufgrund seiner Verletzungen in ein Krankenhaus eingeliefert werden. Muslimische und muslimisch gelesene Kinder sollten sich zu Hamas positionieren, Moscheen erhielten Drohschreiben. Wie Rima Hanano, Gründerin und Leiterin von Claim treffend bemerkte: „Eine Gemeinschaft (steht) unter Generalverdacht“.
„Eine Gemeinschaft (steht) unter Generalverdacht.“
Bei den ndo verwenden wir die Begrifflichkeit „antimuslimischer Rassismus“, weil es sich eben in diesem Zusammenhang nicht nur um religiöse Anfeindungen handelt, sondern wir einen Terminus benötigen, der Strukturen, Normen, Gesetze und zuständige Institutionen in die Problematik, ihre Definition und auch mögliche Mittel der gesellschaftlichen Bekämpfung mit einbezieht.
Wir bei den ndo bedauern in diesem Zusammenhang insbesondere die Rolle der Bundesregierung. Laut der Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch klassifiziert das deutsche Strafjustizsystem Hassverbrechen gegen Muslim:innen und Menschen, die als solche gelesen werden, seit 2017 als „islamfeindlich“ motiviert. Vorurteile und Übergriffe beschränken sich per Definition demnach auf die religiöse Identität, lassen aber rassistisch motivierten Hass außen vor.
Im Juni 2023 veröffentlichte die Bundesregierung die Ergebnisse einer dreijährigen Studie über Muslimfeindlichkeit in Deutschland vom Unabhängigen Expert:innenkreis Muslimfeindlichkeit (UEM). Dezidiert wird der Bundesregierung in diesem Bericht angeraten, antimuslimischen Hass nicht länger von Rassismus zu trennen, sondern den bestehenden und wissenschaftlich belegbaren Zusammenhang anzuerkennen. Das Innenministerium setzte keine der Empfehlungen um, der Bericht wurde 2024 zurückgezogen.
„Mittlerweile ist Auswanderung in vielen Communitys die einzige Alternative.“
Die ndo setzten sich aus ca. 200 Organisationen und Verbänden zusammen, die u. a. auch die Interessen von Muslim:innen vertreten, die regelmäßig im Alltag Einschränkungen, Anfeindungen und Übergriffen ausgesetzt sind. Diese Menschen fühlen sich in Anbetracht eines sich immer weiter verschärfenden politischen und gesellschaftlichen Klimas zusehends ungeschützt und Regierende, sowie Vertreter:innen der Mehrheitsgesellschaft laufen Gefahr, sie endgültig zu verlieren. In Anbetracht zunehmender Anfeindungen, Ressentiments und Repressionen erfolgt nicht nur die mentale Abkehr vom Land und seinen Grundsätzen, sondern mittlerweile ist Auswanderung in vielen Communitys die einzige Alternative.
In ihrer allgemeinen Politik-Empfehlung „zur Verhinderung und Bekämpfung von antimuslimischem Rassismus und Diskriminierung“, betont die Europäische Kommission gegen Rassismus und Intoleranz (ECRI) „die Notwendigkeit unabhängiger Überwachungsstrukturen und den Kapazitätenaufbau bei den Behörden, um antimuslimischen Rassismus zu bekämpfen und die Erkennung und Erfassung solcher Vorfälle zu verbessern“.
Laut dem Internationalen Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von rassistischer Diskriminierung, das am 21. Dezember 1965 von den Vereinten Nationen verabschiedet wurde, ist die Bundesregierung verpflichtet, muslimische Communitys in Deutschland hinreichend zu schützen. Erst 2023 erinnerte der UN-Ausschuss, der die Einhaltung und Implementierung dieses Übereinkommens überschaut, die Bundesregierung daran, alle rassistisch motivierten Vorfälle „effektiv zu untersuchen, zu verfolgen und die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen“.
Es sollte den Verantwortlichen in diesem Land sehr bewusst sein, wie essenziell eine Bekämpfung dieser Form des Rassismus‘ für den Erhalt der Demokratie in Deutschland ist. Denn um die Menschen und ihre Schicksale scheint es noch nie gegangen zu sein. Meinung
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