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Alexander Böttcher, Rassismus, MiGAZIN, Sprache, Integration
Alexander Böttcher © Foto: privat, Zeichnung: MiGAZIN

Contrapunto

Musik, Migration und Ungleichheit

Tango und Deutschrap zeigen, wie Migration und soziale Realität kreative Musikgenres und einzigartige kulturelle Ausdrucksformen schaffen – eine (post-)migrantische Lebensrealität.

Von Montag, 01.07.2024, 11:02 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 01.07.2024, 11:02 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Während die Rapper Celo & Abdi manchen Leserinnen und Lesern bekannt sind, ist María de (aus) Buenos Aires wohl vielen kein Begriff. Es handelt sich um die einzige Tango-Oper des argentinischen Musikers, Bandoneonisten und Komponisten Astor Piazzolla, die er gemeinsam mit Horacio Ferrer komponiert hat. Piazzolla ist zweifelsfrei – nicht zuletzt, weil er es zu seiner Schaffenszeit verstand, den musikalischen Konventionsbruch mit musikalischer Genialität zu verbinden – eine der bekanntesten Persönlichkeiten des Tango Argentino.

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Die 1968 erstmalig aufgeführte Oper erzählt von María, welche im großstädtischen Armutsviertel geboren wird und aufwächst. Sie muss sich durch verschiedene Herausforderungen kämpfen, taucht in ein anderes Milieu ein und begegnet so manchen „zwielichtigen“ Charakteren. In dieser neuen Welt findet sie schließlich den Tod, erlebt jedoch eine Wiederkehr.

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Tango Argentino ist viel mehr als ein bloßer Paartanz. Es handelt sich auch um eine eigene Musikrichtung und Kultur: Daher erzählt die Oper nicht bloß die Geschichte von Maria, sondern sie greift auch typische Motive des Tango Argentino auf, wie die Darstellung (schwieriger) sozialer Verhältnisse. Die Tango-Oper repräsentiert somit parallel den Tango Argentino an sich und die soziale Wirklichkeit, aus der er entstammt. Zugleich geht die vom Tango repräsentierte soziale Wirklichkeit jedoch viel weiter als die Bezugnahme auf die „goldene Ära“ des Tango Argentino, welche in den 1940er Jahren lag. Denn der Tango Argentino verfügt über einen deutlich weitergehenden Ursprung: Er speist sich aus musikalischen Überbringungen afrikanischer Sklavinnen und Sklaven und schafft eine Kombination mit musikalischen Überlieferungen europäischer Einwandererinnen und Einwanderer aus der europäischen Klassik oder populären Paartänzen, wie z.B. polnischer Polka.

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Die Wortherkunft des Tangos ist nicht gänzlich zu klären. Während das lateinische Wort tangere die Berührung meint, verweist das Wort tamgu aus dem Ibibio auf das Tanzen. Auch „Vorläufer“ bzw. stilähnliche Tanz- und Musikrichtungen des Tango Argentino, wie Milonga, Canyengue oder Candombe leiten sich aus Bantu-Sprachen ab. Auch sie verweisen auf die Ursprünge und Popularisierung durch afrikanische Sklavinnen und Sklaven.

Die Sprache des Tangos im Allgemeinen, aber auch die oben genannter Tango-Oper ist voll mit dem „Slang“ aus Buenos Aires, dem Lunfardo. Der Lunfardo selbst setzt sich aus den verschiedensten Sprachelementen des europäischen, südamerikanischen und afrikanischen Raums zusammen und setzt diese neu zusammen. Tango Argentino ist also mit Gewaltverhältnissen und Migrationsprozessen, wie der Kolonialismus oder die politisch und wirtschaftlich bedingten Massenauswanderungen im 18. und 19. Jahrhundert aus Europa, die unsere Welt bis heute beeinflussen, unmittelbar verbunden. Somit ist der Tango sprachlich, stilistisch und musikalisch stark von der Vermischung der verschiedensten Ursprünge und sozialer Ungleichheiten geprägt. Dank dieser Vermischung konnte eine eigene Musik, Kultur und Tanz entstehen.

Die Ursprünge des Raps und seiner dazugehörigen Kultur des Hip-Hops, die vor allem von schwarzen Menschen geprägt ist und von denen viele „Ghettos“ in den USA bewohnten und bewohnen, dürfte weitgehend bekannt sein. Die Thematisierung der eigenen sozialen Situation, welche Erfahrungen der Gewalt und Diskriminierung beinhaltet, stellt eines der Grundelemente der Musikrichtung dar. Mittlerweile ist nicht nur der Rap in den USA zum Mainstream geworden und hat einen popkulturellen Charakter, sondern auch in Deutschland. Es waren auch in Deutschland viele Pioniere des Deutschraps, die die Darlegung ihrer sozialen Situation zum Thema auserkoren. Bis heute ist „Authentizität“, also, dass die rappende Person tatsächlich den schwierigen sozialen Verhältnissen, über die sie rappt, entstammt, ein Kriterium zur Bewertung vieler Rapsongs – wenngleich das manchmal gewisse absurde Züge annehmen mag.

In ihrem Song „Generation Tschö“ rappen die Rapper Celo & Abdi über die Lebensrealität verschiedener Jugendlicher in Problembezirken. Das Lied thematisiert Themen wie Gewalt, Drogenkonsum und Suchterkrankungen, Gefängnisaufenthalte, die Suche nach dem schnellen Geld oder falsche Vorbilder.

An einer Stelle rappt Celo:
„Sein Prala Hamza, Basu 21
M-i-t mit 15, der Maroc verteilt Haschisch“

Neben dem spielerischen Umgang mit dem Vorurteil des marokkanischen Haschischdealers („der Maroc“), fällt die eigene Sprache (auch als Chabo-Sprache bezeichnet) ins Auge. Sie verbindet Begriffe aus verschiedensten geografischen und sozialen Kontexten und bildet eine eigene Sprache: Prala stammt aus dem Romanes und meint Bruder, während Hamza auf Arabisch der Kämpfer ist und BaSu21 („Besonders auffällige Straftäter unter 21 Jahren“) der Polizeisprache entnommen ist. Allein in diesen Zeilen wird eine (post-)migrantische Lebensrealität zwischen Marginalisierung, staatlicher Kontrolle, eigener Umgangsweisen und der Subversivität erzeugt.

Was viele Lieder des (Deutsch-)Raps und des Tango Argentino, trotz unterschiedlicher historischer und gesellschaftlicher Kontexte eint, ist das kreative Herausbilden einer eigenen musikalischen wie lyrischen Sprache durch die Vermischung verschiedenster Elemente.

Tango Argentino, wie auch Deutschrap können uns nicht nur aufzeigen, dass Erfahrungen der Marginalisierung, der Diskriminierung und der Migration zum Entstehen einer eigenen, neuen Sprache beitragen können, sondern auch wie eine eigene musikalische Sprache bis hin zu einem ganzen Musikgenre entstehen kann. Dies geschieht, weil sie Ausdruck sozialer Wirklichkeiten sind, die überall dort auftreten, wo „das System“ und die Strukturen dem Nachgehen eines Norm-Werdegangs nicht für alle gleichermaßen gemacht sind: Wo Kreativität und Spontaneität gefragt sind, wo das Sprechen mit Codes nicht nur ein Spiel mit der Sprache und ein Merkmal zur Unterscheidung von anderen und der Repräsentation einer eigenen Identität ist. Wo es zugleich eine Notwendigkeit darstellt. Angelehnt an den postkolonialen Theoretiker Homi K. Bhabha können wir hier die Repräsentanz dritter Räume vermuten. Die dargelegten Beispiele sind damit Räume, die durch die Vermischung verschiedener Einflüsse entstehen, von Erfahrungen menschlicher Mobilität und Marginalisierung beeinflusst sind und in ihrer Hybridität eine Eigenheit repräsentieren.

Die Realität von Vermischungen und Uneindeutigkeiten anzuerkennen, erscheint, angesichts des Revivals von Essenzialismen, die wiederum einem Wunsch nach Eindeutigkeiten folgen, von dringender Notwendigkeit. Meinung

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