AfD stärkste Kraft
Warum ist Pforzheim so braun?
Vielerorts hat die AfD bei den Gemeinderatswahlen zugelegt. In Pforzheim wurde sie sogar die stärkste Kraft. Das wirft Fragen auf: Hoher Ausländeranteil? Unzufriedenheit? Stadt-Geschichte? Oder eine „Parallelgesellschaft“, die Putin-Propaganda im TV schaut?
Von Marco Krefting Montag, 22.07.2024, 12:40 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 22.07.2024, 12:56 Uhr Lesedauer: 8 Minuten |
„I love Pforzheim“ – seit Kurzem stehen die drei weißen Buchstaben I, P und F samt einem roten Herz an einer Kreuzung in Pforzheim. Ein Hingucker, ein Selfie-Spot, auf private Initiative hin errichtet. Und ein Ausdruck von Heimatliebe. Die ist in Pforzheim so groß, dass manche die Stadt vor Einflüssen von außen am liebsten schützen möchten – und bei Wahlen ihr Kreuz bei Parteien setzen, die genau dafür stehen. So wurde die AfD bei der Kommunalwahl mit 22 Prozent stärkste Kraft. Die Truppe um Fraktionschefin Diana Zimmer kann bei der konstituierenden Sitzung des Gemeinderats an diesem Dienstag mit stolzgeschwellter Brust auftreten.
Für andere führt die Heimatliebe genau deswegen zu „Fremdscham“. So drückt Leon Meyer aus, was er nach der Wahl empfunden habe und was er von anderen höre. Der 20-Jährige ist Präsidiumsvorsitzender des Pforzheimer Jugendgemeinderats und kann sich den Ausgang der Wahl nicht erklären: „Viele haben sich nicht richtig informiert, was sie da wählen“, sagt er. Die AfD trete selten im Gemeinderat in Erscheinung – und wenn, dann mit Nein-Stimmen, Ablehnung, Gegenwind. Die Partei habe kein Interesse an Diskurs und Austausch, bringe nichts voran. Und das schmerze ihn als jungen Pforzheimer: „Ich liebe meine Heimatstadt.“
Rechte Kräfte in Pforzheim traditionell stark
Dass in Pforzheim gemeinhin recht rechts gewählt wird, ist kein neues Phänomen. In den 1960er Jahren war die NPD hier stark, in den 1990ern waren es die Republikaner. Seit es die AfD gibt, bekommt Pforzheim im Südwesten je nach Wahlausgang den Titel AfD-Hochburg – oder schrammt knapp dran vorbei. Und jedes Mal wird anschließend gefragt: Warum?
Die einfache, etwas plumpe Antwort lautet meist: Viele Ausländer, viele Russland-Deutsche, viele Arbeitslose – und das in einer Stadt, die im Zweiten Weltkrieg ähnlich stark zerbombt wurde wie Dresden. Und bei deren Wiederaufbau mehr Wert auf Funktionalität als auf Stil gelegt wurde. Einiges davon ist Fakt, anderes Klischee und bedarf eines genaueren Blicks.
Ja, Pforzheim hat bei rund 130.000 Einwohnerinnen und Einwohnern unter den Stadt- und Landkreisen in Baden-Württemberg mit 31,2 Prozent den höchsten Ausländeranteil und führt auch mit 6,4 Prozent beim Anteil der Schutzsuchenden an der Bevölkerung die Liste an. Nach dem neuen Zensus liegt der Anteil an Eingewanderten sogar bei 39 Prozent.
Zum Teil liegt es daran, dass Ausländer eher in Großstädte ziehen, weil es hier zum Beispiel Arbeit gibt. Ein anderer Erkläransatz ist, dass große Gemeinschaften der Volksgruppe der Jesiden sowie irakischer Staatsangehöriger ein Zuzug-Grund für andere Geflüchtete sei.
Unzufriedenheit und Unsicherheit
„Viele Menschen sind nicht mit der Migrationspolitik zufrieden“, sagt Hans-Ulrich Rülke, der die FDP-Fraktion im Gemeinderat leitet. Vergangenes Jahr lehnte das Plenum eine Landeserstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge ab, für die Oberbürgermeister Peter Boch (CDU) geworben hatte. Auch Andreas Renner von der CDU-Fraktion sieht in der „Angst vor Fremdartigen“ einen Grund für die Stärke der AfD. Allerdings sei diese in Stadtteilen mit vielen Migranten ebenfalls stark. Und die Republikaner seien schon zu einer Zeit im Gemeinderat gewesen, als die Ausländerquote deutlich niedriger war.
In Pforzheim liegt auch das landesweite Abschiebegefängnis. Und überhaupt geht es in Gesprächen über das Abschneiden der AfD schnell um das Thema Sicherheit. Doch die Stadt sei in der Wahrnehmung vieler unsicherer als es der Realität entspreche, sagt SPD-Stadträtin Annkathrin Wulff. Zahlen der Polizei belegen das: Im Verhältnis zur Einwohnerzahl sei Pforzheim die sicherste kreisfreie Großstadt in Baden-Württemberg.
„Zur Wahrheit gehört aber auch, dass die objektive Sicherheitslage gerade in der Stadt Pforzheim nicht mit einem entsprechenden Sicherheitsgefühl einhergeht“, räumte auch Polizeipräsident Christian Dettweiler bei der Präsentation der neuen Zahlen ein. So wundert es nicht, dass die AfD im Wahlkampf auf ihrer Themenliste neben dem Umgang mit dem Geld der Steuerzahler und Wohnraum unter anderem aufführte: „Sichere Stadt – auch subjektiv!“
Weniger rechte Straftaten
Doch lässt sich vom Abschneiden der AfD darauf schließen, dass rassistische Ressentiments in Pforzheim besonders weit verbreitet sind? Zwar nutzen Rechtsextreme das Gedenken an die Bombennacht 1945 alljährlich für einen Fackelmarsch. Die Zahl der Straftaten im Bereich politisch motivierter Kriminalität war laut dem Polizeipräsidium Pforzheim 2023 im Vergleich zum Vorjahr allerdings deutlich rückläufig – auch im rechten Spektrum entgegen dem dort ansteigenden Landestrend. 27 Fälle führt die Statistik hier auf. Bei als antisemitisch und ausländerfeindlich eingestufter rechter Kriminalität war es jeweils keine Handvoll an Fällen.
Auch berichten die Vertreter anderer Parteien, dass die AfD bisher nicht durch Populismus, Hass und Hetze im Gemeinderat aufgefallen sei. Die Abgeordneten treten demnach eher ruhig auf, hielten sich bedeckt. Die AfD-Fraktion selbst ließ eine Anfrage unbeantwortet.
Rülke, der auch Fraktionsvorsitzender der FDP im Landtag ist, sieht Russland-Deutsche, Spätaussiedler und ihre Nachfahren als zweite große Gruppe der AfD-Wähler. „Rechtsnationales Denken zeigt sich immer dann besonders stark, wenn die Menschen Abstiegsängste entwickeln.“ Er spricht von einer Parallelgesellschaft, die russisches Fernsehen und damit Wladimir Putins Propaganda schaue – und mit der AfD eine russlandfreundliche Partei wähle. Sie ist besonders stark auf dem Buckenberg-Haidach vertreten – dort, wo die „I love Pforzheim“-Installation steht.
Geschichte prägt
Doch einiges ist wohl auch eine Mentalitätsfrage. Selbst Pforzheimer sagen, dass in der Stadt gerne „gebruddelt“ wird. Das Glas ist eher halb leer als halb voll. Ein Stück weit lässt sich das auch mit der Geschichte der Stadt erklären.
Als am 23. Februar 1945 die britische Royal Air Force die Stadt binnen 22 Minuten weitgehend zerstörte und mit mehr als 18.000 Menschen etwa jeder dritte Einwohner starb, hinterließ das nach Rülkes Worten „verwundete Seelen“. Wie man hört, erwähnen noch heute einige bei Beerdigungen, wo der Tote an jenem Tag war. Das alljährliche Gedenken wird groß zelebriert.
Der rasche Wiederaufbau führte dazu, dass Pforzheim schon 1953 wieder Hauptlieferant der Welt für Schmuck und Silberwaren war. Eine lange Tradition brachte der Kommune den Titel Goldstadt ein. Der wird noch heute hochgehalten. Und allenthalben wird damit geworben – fast wie eine Art Gegenkonzept zum Stempel „AfD-Hochburg“. Dabei wanderte die Schmuckindustrie später großflächig ab. Kaufkraft und Arbeitsplätze gingen verloren.
Die Anteile an Arbeitslosen und Bürgergeld-Empfängern in Pforzheim sind heute höher als im Landesschnitt, das durchschnittliche Einkommen niedriger. Wie ungleich das Geld verteilt ist, zeigt wiederum diese Statistik: Die Millionärsdichte in Pforzheim ist größer als landesweit.
Zersplitterter Gemeinderat macht Analyse komplexer
Dass die AfD mit 9 von 40 Sitzen stärkste Kraft ist, liegt wohl auch an der Wahlbeteiligung. Die war mit 46 Prozent landesweit mit am niedrigsten. Zudem spalteten sich aus der bisher größten Fraktion der CDU Mitglieder ab und traten eigens an. Das konservative Lager bleibt stark, denn alle 17 wählbaren Listen sind in den Gemeinderat gezogen. Diese Gemengelage dürfte die Arbeit erschweren. OB Boch war Wahlleiter, kommentiert das Ergebnis daher nicht.
Für die badische Landesbischöfin zeigt der Wahlausgang, wie zerrissen eine Stadt sein kann. „Die Wahl bildet auch ab, wo Brücken abgebrochen sind“, sagt Heike Springhart, die vor dem Wechsel an die Spitze der Evangelischen Landeskirche in Baden Pfarrerin in Pforzheim war. „Daraus erwächst eine Aufgabe.“ Unter anderem Kirchen müssten Raum zum Diskurs über herausfordernde Themen bieten. „Es darf auch gestritten werden, aber respektvoll.“
In Pforzheim seien die Voraussetzungen für ein gutes Miteinander in vielerlei Hinsicht gegeben, sagt Springhart und nennt als Beispiel den Rat der Religionen, der ausgesprochen aktiv sei. Rami Suliman, Vorstandsvorsitzender der örtlichen jüdischen Gemeinde und Vorsitzender der Israelitischen Religionsgemeinschaft Baden, kann noch nicht einschätzen, wie sich das Erstarken der AfD auf das Leben in Pforzheim auswirkt. Derweil sagt Meyer vom Jugendgemeinderat, ihn hätten schon Migranten gefragt, ob sie nun abgeschoben würden.
Andere Parteien schließen Zusammenarbeit aus
Egal wie die AfD künftig im Gemeinderat auftritt, Vertreter anderer Parteien schließen eine Zusammenarbeit aus. Wenngleich man nicht werde verhindern können, dass die AfD gelegentlich für Anträge demokratischer Parteien stimme, sagt FDP-Fraktionschef Rülke.
Der Status als größte Fraktion spielt vor allem in Fraktionsrunden im Gemeinderat eine Rolle: Hier orientiert sich die Reihenfolge der Rednerinnen und Redner an der Stärke der Fraktionen/Gruppierungen, die AfD könnte also den Ton für eine Debatte setzen. Nach Einschätzung von SPD-Frau Wulff kommt es aber auf etwas anderes an: „Die demokratischen Parteien werden enger zusammenarbeiten müssen.“
Meyer bangt um eine fortschrittliche Politik: „Bei Fahrradinfrastruktur zum Beispiel ist die AfD grundsätzlich dagegen.“ CDU-Stadtrat Renner sagt: „Wir müssen entspannter mit der Lage im Gemeinderat umgehen – es geht um Sacharbeit.“ Die AfD könne nicht im Alleingang Dinge umsetzen. Zudem gebe es viele Menschen und Initiativen in Pforzheim, die Vielfalt feierten und für ein gutes Miteinander einstünden. „Wir sind deutlich besser als unser Ruf.“
Migranten werden gebraucht
Vorbehalte gegen Migranten kann sich die Stadt ohnehin nicht leisten. So zählt etwa die Industrie- und Handelskammer Nordschwarzwald „attraktive Rahmenbedingungen für Fachkräfte auch aus dem Ausland“ zu den Forderungen an die Politik. Auch die Kulturszene wie das Südwestdeutsche Kammerorchester Pforzheim oder aktuell das Kunst- und Design-Event Ornamenta setzen auf Gastkünstler und Besucher aus dem Ausland.
Überhaupt habe die Stadt genug zu bieten für ein „positives Mindset“, wie SPD-Politikerin Wulff sagt. Viel Grün, gelegen an drei Flüssen, den Schwarzwald vor der Haustür. Für sie gibt es viele Gründe, Pforzheim zu lieben. (dpa/mig) Aktuell Panorama
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