„Was spielen wir heute?“
Kampf mit deutscher Sprache
Kinder lernen die deutsche Sprache schnell, meinen viele. Doch was ist, wenn sie kein Vorbild haben, das Deutsch spricht? Spezieller Förderunterricht soll ihnen helfen. Aber es gibt mehrere Haken.
Von Thomas Strünkelnberg Montag, 12.08.2024, 11:03 Uhr|zuletzt aktualisiert: Samstag, 10.08.2024, 16:53 Uhr Lesedauer: 5 Minuten |
Der dunkelhaarige Achtjährige ist in Plauderlaune. Ihm gehe es gut, sagt er strahlend. Die Frage seiner Lehrerin, ob er seinen „Wackelzahn“ schon verloren habe, versteht er sofort – und bejaht. Heute geht es um das Thema Kleidung; die kleinen Schülerinnen und Schüler beschreiben, was sie tragen und welche Farbe ihre Kleidungsstücke haben. Alles auf Deutsch – und sie freuen sich über jeden gelungenen Satz. An der Grundschule am Nackenberg in Hannover hilft Anne von Consbruch Kindern aus geflüchteten Familien.
Eine Sprache zu lernen, das habe viel mit sprachlichem Handeln zu tun, erklärt die 54-Jährige. Die Kinder werden zum Nachsprechen angeregt – auch formelhafte Wendungen, die etwa 70 Prozent der Sprache eines Erwachsenen ausmachten, werden geübt. Das sind Sätze wie: „Wie geht es dir?“ oder „Mir geht es gut“. An diesem Tag sind nur zwei kleine Schüler da. Sie sind samt ihrer Familien aus der Heimat geflüchtet. Das Mädchen ist seit der ersten Klasse in Deutschland, der Zweitklässler erst ganz kurz – jetzt müssen sie Deutsch lernen.
Sprachförderung nur für zwölf Monate
Und der eifrige kleine Junge lerne schnell, sagt seine Lehrerin, die für die 2009 gegründete Nina-Dieckmann-Stiftung Deutschunterricht für Anfänger gibt – neben dem normalen Unterricht. Die Kinder hätten eine Chance verdient, dafür lohne jedes Engagement, betont sie. Oft hätten die betroffenen Kinder eine Flucht hinter sich, das Leben in der Fremde sei ein „Kulturschock“, auch „arbeiten andere Dinge in ihnen“. Einige Kinder seien nicht sofort bereit für eine fremde Sprache. Es könne ein Jahr dauern, bis sie sich öffnen.
Das Problem: Die unterrichtsbegleitende Sprachförderung werde nur für zwölf Monate genehmigt. Nach neuen Vorgaben hätten Kinder, die länger als ein Jahr in Deutschland leben, keinen Anspruch auf diese Form der Sprachförderung mehr, erklärt von Consbruch. Die Ämter gingen davon aus, dass Kinder, die länger als ein Jahr in Deutschland leben, genug Deutsch könnten, um erfolgreich am Unterricht teilzunehmen.
Sprachvorbilder fehlen
Doch häufig sei erst nach etwa zwei Jahren ein umgangssprachliches Niveau erreicht, für Bildungssprache reiche die Zeit nicht: „Eine Fremdsprache zu lernen ist eben ein langer Prozess. Auch für Kinder.“ Wortschatz, Satzbildung, grammatikalische Strukturen der verschiedenen Zeitformen bräuchten Zeit und Übung. Sprachliche Bilder seien auch schwierig, sagt die 54-Jährige – und erinnert sich an einen zu spät gekommenen Schüler, dem sie scherzhaft sagte, mit ihm ein Hühnchen rupfen zu wollen. Das Ergebnis: erwartungsvolle Blicke.
Stiftungsgründerin Nina Dieckmann ergänzt: „Viele denken, Kinder lernen eine Sprache schnell.“ Das sei allerdings schwierig, wenn sie zu wenig Sprachvorbilder hätten. Auch zu Hause könne wegen der sprachlichen Hürden häufig niemand bei den Aufgaben helfen: „Wie sollen die Kinder lernen, dass da ein falsches Wort steht?“
Schon 5.000 Kinder gefördert
Für den Einsatz braucht es neben Idealismus vor allem eines – Geld. 60 Prozent der Honorarkosten würden mit Lernfördergutscheinen aus dem sogenannten Bildungs- und Teilhabepaket bezahlt, sagt Dieckmann. Um die Gutscheine zu erhalten, müssten die Eltern einen Antrag beim Jobcenter stellen – dieser Antrag sei in deutscher Sprache, die die Eltern oft nicht verstehen. Auch sei nicht festgelegt, wer an den Schulen für die Antragstellung zuständig sei, sagt von Consbruch. „Zum Glück gibt es an vielen Schulen engagierte Sekretärinnen oder Sozialarbeiter, die sich der Problematik annehmen, auch wenn dies offiziell nicht zu ihrem Aufgabengebiet gehört.“
Dabei seien 98 Prozent der Kinder, die eine Sprachförderung benötigten, auch berechtigt, betont Dieckmann. Derzeit fördere die Stiftung 560 Kinder, insgesamt seien es schon rund 5.000. Allein die Honorarkosten für die sogenannten Lernpatinnen und -paten lägen bei etwa 240.000 Euro im Jahr.
Stiftung warnt vor Desaster
Doch dann der Schock im vergangenen Dezember: Daten des Paritätischen Wohlfahrtsverbandes zeigen, dass bei den meisten Kindern und Jugendlichen aus finanziell schwachen Familien nichts vom Bildungs- und Teilhabepaket ankommt. In Niedersachsen bekommen demnach gerade einmal 16,3 Prozent dieser Kinder zwischen 6 und 14 Jahren die Leistung, bundesweit sind es knapp 18 Prozent.
„Das Bildungs- und Teilhabepaket ist offenbar so gut verpackt und verschnürt, dass kaum einer es öffnen kann“, sagt Hauptgeschäftsführer Ulrich Schneider damals. Der Verband sehe das Paket als gescheitert an. Von den gut 128.000 anspruchsberechtigten Kindern und Jugendlichen in Niedersachsen profitierten laut Landesverband nur rund 20.800. Dieckmann betont dagegen, für die Stiftung wäre es ein „Desaster“, wenn die Gutscheine abgeschafft würden, eine Förderung über Spendengelder hinaus gäbe es dann nicht mehr.
Bürokratischer Aufwand
Das sei allerdings nicht das Ziel, betont Joachim Rock, der Abteilungsleiter Sozial- und Europapolitik im Paritätischen Gesamtverband. Die Forderung sei eine andere: Es brauche nur ein Kind, das am Unterricht teilnehme, und einen Anbieter, der Vereinbarungen mit den Ämtern treffe, um die Förderung direkt abzurechnen – ohne die Eltern dazwischenzuschalten. Also: Der Träger meldet, welche Kinder teilnehmen, das Amt überweist das Geld.
Für den Schulleiter der Grundschule am Nackenberg, Chris-Hendrik Schulz, steht fest: Wegen des hohen Anteils an Kindern mit Migrationshintergrund, die größtenteils zwei- oder mehrsprachig aufwachsen, komme der „Sprachbildung eine hohe Bedeutung zu“. Förderung in Kleingruppen trage dazu bei, die Sprachkompetenz zu verbessern. Das Bildungs- und Teilhabepaket schaffe zwar die Voraussetzungen dafür, er bemängelte aber „bürokratische Problematiken“: „Dies ist für Eltern, aber auch für Schule oft herausfordernd.“
Zahl der Kinder landesweit unklar
Wie viele Kinder landesweit Sprachförderung dank der Gutscheine erhalten, ist unklar. Bei der Erfassung der bewilligten Leistungen wird nach Angaben des niedersächsischen Sozialministeriums nicht unterschieden, ob es sich um außerschulische Sprachförderung oder eine sonstige Lernfördermaßnahme handele. Demnach sei 2023 in rund 55.000 Einzelfällen außerschulische Lernförderung bewilligt worden – meist dürfte es sich um klassische Nachhilfe handeln.
In der Lerngruppe sind die beiden Kinder derweil gut beschäftigt – sie dürfen ein Schlussspiel aussuchen und am Ende gemeinsam singen. Denn beim Spielen vergessen sie ihre Schüchternheit, Singen wiederum hilft bei der Sprachförderung immens, wie von Consbruch erklärt. Die Kinder haben sichtlich Spaß am spielerischen Lernen – und fragen vor dem Förderunterricht gerne: „Was spielen wir heute?“ (dpa/mig) Leitartikel Panorama
Wir informieren täglich über das Wichtigste zu Migration, Integration und Rassismus. Dafür wurde MiGAZIN mit dem Grimme Online Award ausgezeichnet. Unterstüzte diese Arbeit und verpasse nichts mehr: Werde jetzt Mitglied.
MiGGLIED WERDEN- Fachkräftemangel vs. Abschiebung Pflegeheim wehrt sich gegen Ausweisung seiner Pfleger
- Nach Budget-Halbierung Regierungsbeauftragter für Reform der Integrationskurse
- „Diskriminierend und rassistisch“ Thüringer Aktion will Bezahlkarte für Geflüchtete aushebeln
- „Hölle“ nach Trump-Sieg Massenabschiebungen in den USA sollen Realität werden
- Verwaltungsgerichtshof Nürnberg muss Allianz gegen rechts verlassen
- Ein Jahr Fachkräftegesetz Bundesregierung sieht Erfolg bei Einwanderung von…