„Italienisches Guantánamo“
Flüchtlinge ausgelagert nach Albanien
Italien will einige Asylverfahren in Albanien abwickeln. Brüssel hat nichts dagegen, andere EU-Staaten schauen interessiert zu, Kritiker sehen in dem Projekt ein „italienisches Guantánamo“.
Von Kathrin Lauer und Robert Messer Dienstag, 06.08.2024, 10:15 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 04.08.2024, 13:58 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Höher als der Metallzaun sind nur die Masten mit Überwachungskameras und der Berg Kakarriqi. Tausende Blicke dürften diese schroffen, spärlich mit mediterranem Gebüsch bewachsenen Hänge bald sehnsüchtig abtasten, über den eisgrauen, fünfmal mannshohen Zaun hinweg. In diesem strengstens bewachten Lager Gjader im Norden Albaniens herrscht italienisches Recht, das sieht man auch den Fahrzeugen auf dem Gelände an: Polizia. Oder den Uniformen, auf denen Carabinieri geschrieben steht. In Gjader sollen demnächst Männer gefangen gehalten werden, die ein ganz anderes Ziel ansteuern.
Italiens Behörden wollen Bootsflüchtlinge hierher bringen, die sie im Mittelmeer an Bord ihrer Schiffe nehmen. Sollte trotz der Sicherheitsvorkehrungen eine Person aus diesem Lager entfliehen und von Albaniens Polizei gestellt werden, soll diese ihn den Italienern zurückbringen. Auch das sieht der Deal zwischen Rom und Tirana vor.
Die Vereinbarung soll vielen Menschen den angestrebten direkten Weg übers Mittelmeer in die EU verwehren, sie über die Außengrenze umleiten. Albanien ist Beitrittskandidat, aber längst kein EU-Mitglied. Hier will Rom – exterritorial – die Asylanträge prüfen. Dieses Prozedere ist eine Premiere, die auch von anderen EU-Staaten mit wohlwollender Neugier beobachtet wird. Es soll helfen, den Druck auf die Flüchtlingszentren in Italien abzubauen, über den viele seit Jahren klagen. Dazu hatten Italien und Albanien im vergangenen Jahr ein Abkommen geschlossen, das von den Parlamenten beider Länder ratifiziert wurde. Rom trägt dafür alle „direkten und indirekten“ Kosten. Eingeplant sind insgesamt etwa 670 Millionen Euro.
Deal von Pragmatiker Rama und Rechtspolitikerin Meloni
Albaniens sozialdemokratischer Ministerpräsident Edi Rama hat sich auf die Vereinbarung mit seiner rechten italienischen Amtskollegin Giorgia Meloni geeinigt – und damit auch eigene Regierungsmitglieder überrumpelt. Kritiker im Land werfen ihm dabei mangelnde Transparenz vor. Rama gilt als Pragmatiker und kennt keine ideologischen Barrieren. Im Januar dieses Jahres etwa war er Gast der traditionellen CSU-Fraktionsklausur in Kloster Banz. Sein Gesprächsthema dort mit CSU-Chef Markus Söder: Migration.
Nach dem Willen von Meloni hätte das Lager Gjader schon im Mai dieses Jahres betriebsbereit sein sollen. Mehrfach musste der Termin aufgeschoben werden. Bei einem Besuch in Albanien kündigte Meloni zuletzt den 1. August als neuen Termin an. Doch wenige Tage davor hieß es, dass technische Probleme das vom Verteidigungsministerium in Rom koordinierte Bauprojekt weiter verzögerten. Der Boden auf dem früheren Flugplatz der albanischen Armee sei so brüchig, dass man ihn erst einmal konsolidieren musste. Und dann kam auch noch die brutale Sommerhitze, sodass die Bauarbeiter geschont und nicht mehr ganztägig eingesetzt werden konnten.
Auf dem kiesigen Gelände stapeln sich Fertigteile für die hellgrauen Metallbaracken, in denen die Insassen schlafen und sich waschen sollen. Davon sind etwa die Hälfte fertig. Die geplante Kantine existiert noch nicht. Es sind 35 Grad im Schatten, den an diesem Mittag auch die Bagger werfen. Daneben halten einige Bauarbeiter ihre Siesta. Derweil führt Italiens Botschafter Fabrizio Bucci schwitzend einige Journalisten durch die halbfertige Anlage ohne Schattenspender, in der bereits viele Polizisten finster um sich blicken.
Der Diplomat hat eine widersprüchliche Aufgabe. Einerseits will er zeigen, wie human sein Land mit den Flüchtlingen und Migranten umgehen werde. Gleichzeitig erhofft sich Rom auch eine abschreckende Wirkung dieser Lager auf Menschen, die nach Europa wollen.
Enge Schlafcontainer für 3.000 Männer
Platzangst sollte niemand haben, der in einem der Container von Gjader schlafen muss. Jeweils vier Männer sollen sich einen nur 15 Quadratmeter kleinen Raum teilen. Immerhin sind an jedem Container Klimaanlagen montiert. In den Dusch-Baracken gibt es Haartrockner. Ein separater Raum für Inhaftierungen ist auch vorgesehen, für den Fall, dass ein Insasse einen anderen angreift. Bis zu 3.000 Männer gleichzeitig sollen in dem Lager unterkommen können – kontrolliert und betreut von 100 Italienern: Carabinieri und Staatspolizisten, außerdem Justizbeamte, Ärzte und Pfleger. Von hier aus sollen sie während ihrer Asylverfahren mit den italienischen Behörden und mit ihren Rechtsanwälten kommunizieren, die teils aus Italien anreisen, teils per Video zugeschaltet mit ihnen in Kontakt treten. Binnen eines Jahres können etwa 36.000 Menschen nacheinander in diesem Lager leben, so der Plan.
„Alles, was wir hier machen, ist kompatibel mit der europäischen Gesetzgebung“, beteuert Botschafter Bucci. „Sogar die albanischen Gesetze sind schon auf europäischem Niveau und auch mit den italienischen kompatibel. Wir wenden hier dieselben Gesetze an, wie in den Lagern in Italien.“ Die EU-Kommission betonte, dass sie die Situation aufmerksam verfolge und in Kontakt mit den italienischen Behörden bleibe. „Generell ist es möglich, dass die EU und die Mitgliedstaaten bei der Steuerung der Migration mit Ländern außerhalb der EU zusammenarbeiten. Wichtig ist, dass dabei das EU-Recht und das Völkerrecht in vollem Umfang beachtet werden“, sagte eine Sprecherin der Brüsseler Behörde. Bundesinnenmininsterin Nancy Faeser (SPD) hatte das Vorhaben als „interessantes Model“ bezeichnet.
Abgewiesene Asylantragsteller will Rom nach maximal 18 Monaten Aufenthalt in Gjader in ihre Heimatländer abschieben. Was aber geschieht, wenn diese sie nicht zurücknehmen wollen? Hier habe man vorgesorgt, erläutert Botschafter Bucci: Bereits auf den Schiffen der italienischen Behörden würden die Geflüchteten sortiert. Nur diejenigen, die aus Ländern kommen, in die man sie aufgrund bilateraler Abkommen auch wieder abschieben kann, werden nach Gjader gebracht. Die Übrigen kommen nach Italien.
Familien sollen zusammenbleiben
Auf diesen Schiffen wird über die Geflüchteten auch nach einem weiteren Kriterium entschieden, erklärt Evandro Clementucci, Offizier der italienischen Staatspolizei: Gesundheitlich sehr fragile Männer sowie Frauen und Kinder samt ihren Ehemännern kommen nicht nach Albanien. Familien sollen nicht auseinandergerissen werden. Sie werden direkt nach Italien gebracht. Den verbliebenen Männern wird auf den Schiffen eine vorläufige Identität zugeschrieben, dokumentiert durch ein Armband, das ihnen angelegt wird. Damit gehen sie im albanischen Adria-Hafen Shengjin an Land, wenige Kilometer vom Lager Gjader entfernt. Albaner und ausländische Touristen lieben Shengjin, weil man dort herrlich baden kann.
Clementucci leitet das Zentrum für die erste Aufnahme in Shengjin mit gut 60 Mitarbeitern, das ebenfalls mit Zäunen abgeschirmt und von Polizisten bewacht wird. Hier wartet ein streng vorgegebenes Prozedere auf die Ankömmlinge: duschen, ärztliche Untersuchung, erstes Gespräch mit Beamten, die bereits die Fluchtmotive vorläufig einschätzen sollen: politisch oder wirtschaftlich. Danach geht es noch am selben Tag weiter nach Gjader. Es gebe ein beschleunigtes Asylverfahren zur Klärung des Status der Menschen und bei „positivem Befund“ würden sie dann nach Italien gebracht.
Menschenrechtler kritisieren das Projekt
Das Projekt ist auch in Italien umstritten. Die Opposition in Rom zweifelt etwa die Rechtmäßigkeit des italienisch-albanischen Pakts an und sprach von einem „italienischen Guantánamo“. Italien ist eines der Länder, die von der Fluchtbewegung aus Afrika nach Europa übers Mittelmeer besonders betroffen sind. Vergangenes Jahr kamen nach offiziellen Zahlen mehr als 150.000 an Italiens Küsten an. Meloni war 2022 mit dem Versprechen ins Amt gegangen, die Ankünfte deutlich zu senken, sah sich angesichts der hohen Zahlen jedoch in Erklärungsnot und schmiedete verschiedenste Abkommen zur Eindämmung der Migration.
Die Zentren in Albanien sind ausdrücklich nicht für Geflüchtete vorgesehen, die per Boot an italienischen Küsten ankommen oder von privaten Hilfsorganisationen gebracht werden – sondern nur für jene, die von den italienischen Behörden in internationalen Gewässern an Bord genommen werden.
Diese Eingrenzung auf internationale Gewässer bedeutet nach Einschätzung von Amnesty International, dass es sich vor allem um Bootsflüchtlinge handle, die nahe der afrikanischen Küste auf die italienischen Schiffe kommen. Die Menschenrechtsorganisation hat das Wohl der Menschen im Blick, die oft tagelang in seeuntauglichen Booten auf dem Meer unterwegs sind, in der prallen Sonne, ohne große Vorräte. Diesen erschöpften und womöglich kranken und traumatisierten Menschen werde eine viel zu lange Schifffahrt bis nach Albanien zugemutet, statt sie zügig zur nächsten italienischen Insel zu bringen. (dpa/mig) Ausland Leitartikel
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