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Zeyneb Sayılgan, MiGAZIN, Profil, Islam, Muslime
Dr. Zeyneb Sayılgan © bearb. MiG

Die Hijra/Flucht

Lehren aus der ersten muslimischen Migration für heute

In vielen Ländern prägen Migration und Flucht die Politik. Für Muslime haben diese Themen einen besonderen, theologischen Stellenwert. Geflüchtete verkörpern eine wegweisende Erinnerung.

Von Mittwoch, 14.08.2024, 11:25 Uhr|zuletzt aktualisiert: Samstag, 10.08.2024, 16:42 Uhr Lesedauer: 5 Minuten  |  

Im Juli traten die Muslime in ihr neues islamisches Jahr 1446 ein. Der erste Tag des islamischen Mondkalenders basiert auf einem bedeutsamen Ereignis – der Hijra oder der Migration von Mekka nach Medina im Jahr 622. Die frühe muslimische Gemeinschaft, die von ihrem eigenen Volk verfolgt, ausgehungert und gefoltert wurde, hatte keine andere Wahl, als aus ihrer Heimat zu fliehen. Diese Auswanderer (muhajirun) wurden von den neuen Muslimen in Medina – den Helfern (ansar) – großzügig empfangen.

Diese Helfer hatten nur sehr begrenzte Ressourcen, die sie anbieten und teilen konnten. Doch obwohl sie in der rauen Wüste mit einfachen Mitteln lebten, waren sie bereit, die Neuankömmlinge mit einer Haltung des Mitgefühls und größter Großzügigkeit aufzunehmen. Auch die Auswanderer verstanden, dass sie dies nicht als selbstverständlich ansehen konnten. In einer ähnlichen Haltung der Selbstlosigkeit leisteten sie ihr Bestes, um ihre neue Gemeinschaft voranzubringen. Konflikte und Eintracht waren damals wie heute eine Realität menschlicher Beziehungen. Beiden Seiten haben sich dennoch für ein Zusammenleben angestrengt und letztendlich eine neue Gemeinschaft mit einer tiefen Vision aufgebaut. Die Schwierigkeiten in der Schaffung einer neuen nachhaltigen sozialen Einheit werden im Koran selbst anerkannt: Gott hat sich gnadenvoll dem Propheten, den Auswanderern (aus Mekka) und den Helfern (in Medina) zugewandt, die ihm in der Stunde der Not folgten, nachdem die Herzen einiger von ihnen beinahe gewankt hätten. Doch Er wandte Sich ihnen mit Erbarmen zu, denn Er ist der Teilnahmsvolle, der Barmherzige (Koran 9:117).

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So nostalgisch das auch klingen mag, dieser geschwisterliche Zusammenhalt, die ständige Opferbereitschaft und unermüdliche Gemeinschaftsarbeit waren der Keim, der die neue Expansion des islamischen Reiches ins Leben rief.

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Ich selbst bin Migrantin. Wenn ich heute auf dieses tiefgreifende Ereignis zurückblicke, das die weltweite muslimische Gemeinschaft tiefgreifend geprägt hat, werde ich daran erinnert, dass es beide Seiten – Einwanderer und Aufnahmegemeinschaft – braucht, damit Gesellschaften gedeihen. Die Klimakrise, globale Kriege und weltweite Armut zwingen uns dazu, unser Verständnis davon, was es bedeutet, wirklich dazuzugehören, zu überdenken: Reichen nationale, territoriale Konstrukte, Grenzen und schmale Pässe aus, um die Entstehung hybrider, fließender und transnationaler Identitäten zu erfassen? Könnten wir angesichts der globalen Flüchtlingskrise vermeiden, den Menschen aus einer rein utilitaristischen Perspektive zu betrachten? Sind Einwanderer und Flüchtlinge entweder eine Belastung oder ein Vorteil – sozial, wirtschaftlich, politisch?

Könnten wir auf den entmenschlichenden und erniedrigenden öffentlichen Diskurs über Migration verzichten und zu einer einfachen Tatsache gelangen: Der Einwanderer und Flüchtling ist eine deutliche und verkörperte Erinnerung daran, dass das Leben fragil ist, Stabilität und Gewissheit eine Illusion sind und dass jeder von uns seinen Lebensunterhalt innerhalb eines Augenblicks verlieren kann. Diejenigen von uns, die behaupten, den abrahamitischen Religionen anzugehören, wissen sehr gut, dass wir am Rande der Gesellschaft standen und dass unsere Ursprungsgeschichte in den schmerzhaften Erfahrungen von Exil, Zuflucht und Einwanderung wurzeln. Umso mehr müssen Religionsgemeinschaften aus dieser historischen Amnesie erwachen und ihre Verantwortung wahrnehmen, sich um den Neuankömmling zu kümmern und den Fremden willkommen zu heißen. Es ist schmerzhaft mitanzusehen, wie die grundlegende Würde des Menschen im öffentlichen Diskurs über Einwanderung und Migration ignoriert wird.

Als Migrantenkind habe ich diese Gemeinschaften als selbstlose, fleißige und belastbare Menschen erlebt. Gewiss, manch einer romantisiert sein Herkunftsland, hegt gleichzeitig eine Nostalgie gegenüber der Vergangenheit und kann vielleicht eine gewisse Ablehnung gegenüber dem Ankunftsland empfinden. Eine solche Einstellung ist schwierig, denn sie erlaubt nicht die Vorstellung, dass das neue Land etwas Wertvolles zu bieten hat. „Zu Hause“ war alles und jeder immer besser. Solche Gefühle sind aber besonders in den ersten Jahren einer gewaltsamen und unfreiwilligen Einwanderungserfahrung häufig und verständlich. Sie müssen anerkannt und verarbeitet werden. Trauma, Schmerz, Trauer und Kummer über so viele geliebte Hinterbliebene, Verluste und zurückgelassene Erinnerungen sind Realität.

Die Hijra erzählt die Geschichte, dass im Verlust auch ein Gewinn liegen kann. In der Abwesenheit kann Fülle gefunden werden. Ein Ende kann ein neuer Anfang sein. Sowohl Aufnahme – als auch Einwanderergemeinschaften können Offenheit gegenüber neuen Möglichkeiten zeigen. Die Gedanken des muslimischen Theologen Bediüzzaman Said Nursi bieten sich hierzu als treffend an: Wir sollten danach streben, die kosmische Geschwisterlichkeit nachzuahmen, die sich in der gesamten Natur zeigt. Zuerst müssen wir uns offen begegnen und einander kennenlernen (tearüf). Wir können und müssen Zusammenhalt zeigen (teanuk), einander unterstützen (tesanüd), auf die Bedürfnisse des anderen eingehen (tecavüb) und einander helfen (teavün). In unserem Kern sind wir soziale Wesen, die eng miteinander verbunden und verwoben sind.

Die erste muslimische Migration war eine frühe Erfolgsgeschichte. Sie demonstriert, dass die Menschheitsfamilie mit dem vollen Bewusstsein und dem tiefen Verständnis handeln muss, dass jeder einzelne von uns Teil eines voneinander abhängigen Ganzen ist und dass jeder von uns ein wichtiges, einzigartiges Stück im heiligen Gefüge des Lebens darstellt. Jeder von uns ist aufgerufen, seinen Teil zur Gemeinschaftsarbeit beizutragen, indem er seine von Gott gegebenen Talente, Fähigkeiten und Ressourcen mit anderen teilt. Der Koran erinnert durch die Hijra, dass wir in Zeiten von Flucht und Vertreibung einander brauchen und aufeinander angewiesen sind:

Wahrlich, diejenigen, die glauben, ausgewandert sind und mit ihrem Besitz sowie ihrer Person auf Gottes Weg kämpfen, und jene, die ihnen Zuflucht und Beistand gewähren, sind einander (treue) Verbündete […] Sollten sie jedoch im Namen der Religion um Hilfe ersuchen, seid ihr verpflichtet, ihnen Beistand zu leisten – es sei denn, (sie bitten um Hilfe) gegen ein Volk, mit dem ihr einen Friedensvertrag habt. Und Gott ist der Allsehende über euer Tun, (Koran 8:72). Meinung

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