Ein Jahr Flugblattaffäre
Der Fall Aiwanger: Erkenntnisse eines Politik-Skandals
Im August und September vor einem Jahr dominiert nur ein Thema die Schlagzeilen: Die Affäre um ein antisemitisches Flugblatt aus Hubert Aiwangers Schulzeit. Was ist ein Jahr später daraus geworden?
Von Marco Hadem, Frederick Mersi und Simon Sachseder Montag, 19.08.2024, 16:44 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 19.08.2024, 16:44 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Im Sommer nach der Flugblattaffäre um Bayerns Vize-Regierungschef Hubert Aiwanger erinnert kaum noch was an die turbulenten Wochen Ende August und Anfang September 2023. Solange man nicht über das antisemitische Flugblatt spricht oder nach ihm fragt, gibt sich der Freie-Wähler-Chef meist redselig. Kritik an der Ampel geht immer, Lob für Wasserstoff auch, genau wie umstrittene Ideen zum Wassercent, zum Waffenrecht oder seine in die Jahre gekommene Forderung nach „2.000 Euro steuerfrei“.
Trotzdem kann, wer auf die Suche geht, im Jahr eins nach dem Skandal so manche Erkenntnis sammeln. Die Erste ergibt sich, wenn man den oben genannten Pfad verlässt und Aiwanger oder seine Getreuen trotzdem auf eben jenes Flugblatt anspricht. Er wolle sich zu „dem Thema“ nicht mehr äußern, weshalb sogleich die zweite Erkenntnis lautet: Aiwanger und seine Getreuen umschiffen sogar das Wort Flugblatt wie die meisten Zauberer in Harry Potter den Namen Lord Voldemort oder, für die älteren Semester, wie der Teufel das Weihwasser.
Dabei – Erkenntnis drei – hat die Affäre rund ein Jahr nach ihrem größten Beben in Form einer handfesten bayerischen Regierungskrise noch immer einen gewissen Gesprächswert – etwa auf den vielen Sommerempfängen und Festen in diesem Sommer. Es soll sogar das eine oder andere Grußwort gegeben haben, in dem kurz daran erinnert wurde.
Freie Wähler in Umfragen wieder auf Niveau von vor dem Skandal
All das verbindet sich mit einer weiteren Erkenntnis, die CSU-Chef Markus Söder schon im vergangenen Jahr vorausgesagt hatte: Aiwangers Freie Wähler verlieren seither in Umfragen wieder deutlich an Zustimmung. Nach einer Erhebung des Meinungsforschungsinstituts Forsa kommen die Freien Wähler aktuell nur noch auf 12 Prozent, was ziemlich genau dem Wert entspricht, den sie auch vor dem Flugblatt-Beben erreichten.
Zur Erinnerung: Obwohl Aiwanger und Co in der Berichterstattung über das Flugblatt gerne eine „Schmutzkampagne“ gegen sich vermuteten, bescherte sie den Freien Wähler ein Rekordergebnis von 15,8 Prozent bei der Wahl im Herbst 2023.
Die ursprünglichen Vorwürfe
Die „Süddeutsche Zeitung“ hatte als Erstes über den Verdacht berichtet, dass Aiwanger zu Schulzeiten in den 1980er Jahren ein antisemitisches Flugblatt geschrieben haben soll. Das wies dieser schriftlich zurück. Gleichzeitig räumte er aber ein, es seien „ein oder wenige Exemplare“ in seiner Schultasche gefunden worden. Kurz darauf gestand Aiwangers älterer Bruder ein, das Pamphlet geschrieben zu haben. Erwähnenswert ist an dieser Stelle, dass die Recherche inzwischen den Stern-Preis für die „Geschichte des Jahres“ erhalten hat.
In der Folge tauchten immer neue Vorwürfe auf. Aiwanger wies zwar, unterbrochen von einer öffentlichen Entschuldigung, alle Vorwürfe von sich – dennoch stieg der Druck auf ihn und auch auf Söder. Rücktrittsforderungen wurden laut, das Beben war auch fernab des bayerischen Epizentrums zu spüren. Der Landtag musste zu einer Sondersitzung zusammenkommen.
Doch obwohl auch Söder Aiwanger ein „nicht sehr glückliches“ Krisenmanagement vorwirft und die Antworten seines Stellvertreters auf einen von der Staatskanzlei öffentlich gemachten Fragenkatalog zu den Vorwürfen äußerst dürr ausfallen, hält er am Ende – auch mangels Alternativen – an ihm fest, verzichtet auf Aiwangers Entlassung als Minister und umgeht damit auch den sicheren Bruch der Koalition kurz vor der Landtagswahl.
Koalitionsvertrag bekennt sich gegen Antisemitismus
Mehr noch: Söder arbeitet seit der Wahl auch in der neuen Koalition mehr oder weniger geräuschlos mit Aiwanger und dessen Freien Wählern zusammen. Auch wenn das Verhältnis der beiden Parteichefs seit jenen Krisentagen endgültig zerrüttet ist. Als weitere Erkenntnis und Lehre aus der Flugblattaffäre ziert den Koalitionsvertrag nun eine Präambel mit einem Bekenntnis zur freiheitlichen demokratischen Grundordnung. Dort heißt es auch: „Wir treten jeglicher Form von Antisemitismus, Intoleranz, Fremdenfeindlichkeit und Rassismus entschlossen entgegen.“
Aiwangers persönliche Lehren aus Skandal bleiben unklar
Bleibt noch die Frage, was Aiwanger selbst für Lehren aus der Krise gezogen hat. Antworten dazu gibt es von ihm keine, leider. Eine kürzlich angesetzte Reise nach Israel musste er wegen der Sicherheitslage verschieben, sie hätte sicherlich viele interessante Ansätze liefern können.
Ob er ferner die ihm von Weggefährten wie Kritikern vor einem Jahr erteilte Aufgabe, Reue und Demut zu zeigen sowie den Kontakt zur jüdischen Gemeinde zu verbessern, angenommen hat, lässt sich nicht so einfach beantworten. Dem BR sagte er dazu: „Es gibt immer wieder Kontakte in die jüdischen Gemeinden“, über Besuche in KZ-Gedenkstätten ist laut BR ebenfalls nichts bekannt. Die vorerst letzte Erkenntnis lautet daher: Offenkundig scheint es Aiwanger zumindest bislang nicht daran gelegen zu sein, die letzten Schatten der Affäre für immer zu vertreiben.
Wie Ironie wirkt es da, dass zuletzt nur noch ein anderer Protagonist wegen der Flugblatt-Affäre mit negativen Folgen rechnen musste: Ein pensionierter Lehrer an Aiwangers Schule, der verdächtigt wurde, das Pamphlet an die „Süddeutsche Zeitung“ weitergegeben zu haben, musste wegen eines dienstrechtlichen Verfahrens um seine Pension bangen. (dpa/mig) Leitartikel Politik
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