Rezension
Wallraffs Ali ist immer noch „Ganz unten im System“
40 Jahre nach Wallraffs Besteller „Ganz unten“, legt Sascha Lübbe in seinem Buch offen: Die Alis sind bis heute „Ganz unten im System“. Sie sind gefangen in einer parallelen Arbeitswelt, in der im großen Stil ausgebeutet wird. Ein Buch, das wachrütteln sollte.
Von Ekrem Şenol Sonntag, 25.08.2024, 10:59 Uhr|zuletzt aktualisiert: Samstag, 24.08.2024, 13:10 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
Der Ali in Günter Wallraffs Bestseller aus 1985 arbeitet bis heute „Ganz unten“. An seiner Situation hat sich kaum etwas verändert, wie der renommierte Journalist und Autor Sascha Lübbe in seinem neuen Buch „Ganz unten im System“ zeigt. Er wird bis heute ausgegrenzt, betrogen und verrichtet schwere, dreckige Arbeiten, für die wir uns zu schade sind. Arbeiten, die körperlich und psychisch zuerst krank- und dann kaputtmachen – irreparabel. Der 47-jährige Fabiu aus Rumänien beispielsweise baut unsere schönen Häuser und modernen Bürokomplexe. Dominik, Ende 30, aus Polen, zerlegt unser leckeres Fleisch für die Gartenparty auf dem Schlachthof und Samim (42) aus Usbekistan fährt es in brutal unterbezahlten Tag- und Nachtschichten im Sattelschlepper zu uns in den Supermarkt.
Das sind nur einige der Protagonisten aus Lübbes Buch, das am 14. Mai 2024 im Hirzel-Verlag erschienen ist. Anders als Wallraff ist Lübbe nicht undercover in die Rolle des ausländischen Arbeiters geschlüpft, sondern er lässt die Betroffenen selbst zu Wort kommen. Die Anlehnung des Titels an Wallraffs Meisterwerk ist aber offensichtlich kein Zufall, knüpft Lübbe doch nahtlos an das an, was Wallraff als Ali vor knapp 40 Jahren ans Tageslicht befördert hat: Ausbeutung von Arbeitskraft bis hin zum Menschenhandel, teilweise jenseits hiesiger Vorstellungskraft und im ganz großen Stil.
Lübbe hat sein Werk in sieben Hauptkapitel unterteilt. Er beginnt es mit einer Einführung in die Thematik der Arbeitsmigration und stellt die Frage, wie es in einem wohlhabenden Land wie Deutschland zu solch massiver Ausbeutung kommen kann. Er zeigt zahlen- und faktenbasiert auf, wie groß die Parallelwelt für viele Arbeiterinnen und Arbeiter ist, die vom Rest der Gesellschaft weitgehend unbeachtet bleibt.
Die Bauindustrie: Knochenarbeit ohne Absicherung
Eines der zentralen Kapitel des Buches legt die Zustände in der Bauindustrie offen. Lübbe beschreibt die Arbeitsbedingungen auf deutschen Baustellen und zeigt anhand konkreter Beispiele, wie ausländische Arbeitende ausgebeutet werden. Die Menschen, meist aus Osteuropa, verrichten schwere körperliche Arbeit ohne ausreichenden Arbeitsschutz und erhalten oft nicht einmal den gesetzlichen Mindestlohn. Urlaub, Krankheit oder Arbeitsunfälle gehen in der Regel zu ihren eigenen Lasten.
Die geschilderten Schicksale der Betroffenen, ihr Leben und ihr Tod – teilweise obdachlos auf der Straße – wirken teilweise surreal, wie aus anderen, fremden Ländern. Ihre Geschichten, die sich mitten in Deutschland abspielen, lassen erschaudern. Man ist geneigt, das Buch immer wieder zur Seite zu legen, Luft zu holen, an die schönen, großen Neubauten zu denken, die Moderne, Aufschwung, Wohlstand symbolisieren, in Wirklichkeit aber gebaut sind auf Kosten armer, schutzloser Menschen.
Die Fleischindustrie: Arbeiten im Akkord
In der Fleischindustrie sind die Zustände ebenfalls katastrophal. Lübbe beschreibt die Bedingungen in Schlachthöfen und Fleischverarbeitungsbetrieben, in denen Arbeitsmigrantinnen und -migranten unter menschenunwürdigen Bedingungen im Akkordtempo funktionieren müssen. Die Arbeitszeiten sind lang, die Bezahlung miserabel und der Arbeitsdruck enorm. Unvorstellbar, dass Betroffene während der Arbeitszeit nicht einmal auf Toilette gehen dürfen – dürfen! – oder trotz Krankheit pünktlich zum Dienst erscheinen – aus Angst vor Entlassung. Viele leben in engen, überfüllten Unterkünften und haben kaum Rechte.
Ganz unten im System
Erschienen am 14. Mai 2024 im S. Hirzel Verlag,
208 Seiten, 22,00 Euro
ISBN-10: 3777634085
Lübbe zeigt auf, wie das System der Subunternehmer dazu beiträgt, diese Zustände zu verschleiern und die Arbeiterinnen und Arbeiter rechtlos zu machen. Ihm geht es offensichtlich nicht darum, die Situation zu dramatisieren, eine Branche schlecht zu machen oder die Politik zu kritisieren. Er zeichnet mit journalistischer Sorgfalt auf, welche Situation er während seiner Recherche vorgefunden hat. Er erläutert auch, was sich seit den Skandalen während der Corona-Pandemie gebessert hat, welche Maßnahmen der Politik wirken und welche nicht – samt der gewollten und ungewollten Nebenwirkungen.
Auch in diesem Kapitel erwischt sich der Leser dabei, wie er gedanklich ausschweift: Plötzlich ist er im Supermarkt, läuft wie immer unbekümmert an der Fleischtheke vorbei, entlang der rosafarbenen, frischen, saftigen, appetitlichen, sauber aufgeräumten und erschwinglichen Steaks und Würstchen – bequem, oder „nur“ naiv?
Die Transportbranche: Leben auf der Autobahn
Im dritten Branchen-Kapitel widmet sich der Verfasser den LKW-Fahrern, die das Rückgrat der deutschen Logistikbranche bilden. Diese Menschen verbringen oft Monate auf den Straßen, leben in ihren LKWs und sehen ihre Familien nur selten. Ihre Geschichten zeigen, welches Leid, welche Strapazen und Sehnsüchte diese Menschen auf sich nehmen, um gerade so viel verdienen zu können, dass ihre Familien in der fernen Heimat über die Runden kommen, ihre Kinder eine Schulausbildung genießen können.
Auch das System hinter dieser Branche durchleuchtet Lübbe. Er erklärt, wie ein Geflecht aus Beziehungen zwischen Unternehmern und Politik in Brüssel Einfluss ausübt, woran Lösungen auf EU-Ebene oft scheitern, welche Interessen kollidieren und welche sich am Ende durchsetzen.
Strukturelle Probleme und rechtliche Lücken
Lübbe zeichnet in seinem Buch nicht nur die Missstände auf, er geht auch auf die strukturellen und rechtlichen Probleme ein, die diese Ausbeutung überhaupt ermöglichen. Wie in einem falschen Film kommt man sich vor, wenn man erfährt, dass Deutschland in bestimmten Branchen ein Land der Dumpinglöhne ist. Während die Öffentlichkeit über Lohnerhöhung, Home-Office oder über die Vier-Tage-Woche diskutiert, siedeln Unternehmen aus Nachbarländern in Deutschland an, weil sie in einer nicht öffentlichen parallelen Arbeitswelt Löhne weit unterhalb der Mindestlohngrenze zahlen, an Menschen „ganz unten im System“.
Lübbe analysiert die Lücken des deutschen Arbeitsrechts und zeigt, wie diese von skrupellosen Unternehmern ausgenutzt werden. Besonders die Rolle der Subunternehmer und Leiharbeitsfirmen wird kritisch beleuchtet. Sie dienen oft dazu, Verantwortung von den großen deutschen Vorzeigeunternehmen abzuwälzen und die Ausbeutung von ausländischen Arbeitenden zu verschleiern. Aber auch die Ohnmacht bzw. Konzeptlosigkeit der Behörden zeigt Lübbe schonungslos auf. Sein Buch ist Auftrag an Legislative, Judikative und Exekutive. Es sind nicht nur besseren Gesetze nötig, sondern auch bessere Kontrollen und eine Justiz, die Missbrauch entsprechend ahndet – laut Lübbe eine Seltenheit.
Die Rolle der Konsument:innen
Ein weiterer wichtiger Punkt, den Lübbe anspricht, ist die Rolle der Konsumenten und Konsumentinnen. Er zeigt auf, dass der Druck, immer billigere Produkte zu konsumieren, unmittelbar zur Ausbeutung von Arbeitsmigrantinnen beiträgt. Lübbe fordert ein Umdenken in der Gesellschaft und appelliert an die Verantwortung jedes Einzelnen, bewusstere Konsumentscheidungen zu treffen und die Augen vor den Missständen nicht zu verschließen.
Ein Aufruf zur Veränderung
„Ganz unten im System“ ist ein wichtiges Buch, das die unsichtbaren und oft vergessenen Arbeiterinnen und Arbeiter in unserer Wirtschaftswelt in den Fokus rückt. Lübbe gelingt es, die Geschichten der betroffenen Menschen empathisch zu erzählen und gleichzeitig die strukturellen Probleme zu analysieren, die zu ihrer Ausbeutung führen. Hierbei wählt Lübbe keinen anklagen Ton. Er orientiert sich an der Faktenlage, erzählt die Geschichten der Verlierer in diesem System, die teilweise aufwühlen, teilweise schockieren, teilweise wütend machen. Er malt auch kein Schwarz-Weiß-Bild, sondern zeigt die Situation aus verschiedenen Perspektiven, etwa indem er erklärt, warum sich die Betroffenen nicht selten selbst im Weg stehen, der Ausbeutung zu entkommen oder mit welchen Herausforderungen die Unternehmer zu kämpfen haben.
Anders als Wallraffs Buch ist Lübbes Werk in erster Linie keine Enthüllung. Dafür sind die Strukturen und die Probleme inzwischen zu bekannt. Lübbe überrascht jedoch mit dem Ausmaß dieses Abgrunds. Ein Wachrütteln, eine Debatte oder Veränderungen wie vor 40 Jahren nach dem Erscheinen von Wallraffs Buch sind dennoch nicht zu erwarten, was keinesfalls am Buch liegt: Lübbe beleuchtet – anders als Wallraff – ein branchenübergreifendes System und die Strukturen dahinter. Die Gründe für das wahrscheinliche Ausbleiben eines Aufschreis – ich würde mich gerne irren – sind vielfältig. Auch die Gesellschaft ist heute eine andere, wie man in Lübbes Buch erfährt. Darin zeichnet ein Experte „das Bild einer Gesellschaft, die Migranten als reine Arbeitsmaschinen sieht. Und als Möglichkeit, sich zu bereichern.“ Es sei „diese gesellschaftliche Übereinkunft“, die ihn „erschreckt“. (mig) Aktuell Rezension
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