Steinmeiers „Wunsch“
Solingen kann zu einem großen Vorbild aufblicken
Neun Tage nach dem Anschlag findet in Solingen eine Gedenkveranstaltung statt. Für die Stadt ist die Terrortat umso schlimmer, weil sie vor 31 Jahren schon einmal Ähnliches erlebt hat. Aber die leidgeprüfte Stadt kann auf ein großes Vorbild aufschauen.
Von Christoph Driessen und Yuriko Wahl-Immel Sonntag, 01.09.2024, 15:47 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 01.09.2024, 15:47 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Eine Glocke schlägt dreimal, ein kurzer, aber nachhallender Ton. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier, Ministerpräsident Hendrik Wüst (CDU) und der Solinger Oberbürgermeister Tim Kurzbach (SPD) stehen schweigend vor den Kränzen zum Gedenken an die Opfer des Messeranschlags von vor gut einer Woche. Schauplatz der Szene ist der Fronhof im Zentrum von Solingen – jener Ort, an dem ein 26 Jahre alter Syrer drei Besucher eines Stadtfests getötet und acht andere verletzt hatte.
Gedenkfeiern mit den Spitzen des Staates haben naturgemäß etwas sehr Offizielles, sie sollen ja auch einen feierlichen Ernst ausstrahlen. Doch am Rande dieser Trauerveranstaltung kommt es immer wieder auch zu intimen Begegnungen: Wüst und Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) auf einer Bank, im intensiven Gespräch vertieft mit einer Betroffenen, Bundespräsident Steinmeier im Dialog mit Bürgerinnen und Bürgern.
Ob sie sich noch an den Brandanschlag von Solingen von 1993 erinnern könne, fragt er eine Frau. „Da war mein Sohn gerade drei Jahre alt“, kommt zur Antwort. „Die Wunden waren ja nach 30 Jahren einigermaßen verheilt“, sagt Steinmeier. „Sind sie zuversichtlich, dass nach vielen Jahren die Wunden auch jetzt wieder verheilen können? Dass die Stadtgesellschaft wieder zusammenkommt?“ Ja, das werde wohl gelingen, hört er. Man werde künftig die Opfer beider Verbrechen in das Gedenken einschließen.
Die Tat hat Solingen retraumatisiert
Steinmeier ist erst im vergangenen Jahr in Solingen gewesen, damals zum 30. Jahrestag des Brandanschlags. Dabei war in der Nacht des 29. Mai 1993 das Haus der türkischstämmigen Familie Genc bis auf die Grundmauern niedergebrannt. Fünf Mädchen und Frauen kamen um. Der frühere nordrhein-westfälische Ministerpräsident Armin Laschet (CDU) hat diesen Anschlag einmal als „das schrecklichste Ereignis in der Geschichte des Landes Nordrhein-Westfalen“ bezeichnet. Solingen wurde zum Symbol für die rassistische Gewaltwelle der frühen 1990er Jahre.
Damit auf Dauer zu leben, ist für das Selbstverständnis einer Stadt alles andere als einfach, doch Solingen hat diese Herausforderung in so hohem Maße gemeistert, dass ihr der stellvertretende türkische Außenminister Yasin Ekrem Serim 2023 bescheinigte, das Gedenken an den Anschlag sei mittlerweile Teil der „DNA der Stadt“.
Doch jetzt das schier Unfassbare: Dieselbe Stadt wird zum zweiten Mal von einem ideologisch motivierten Verbrechen erschüttert, diesmal ermordet ein mutmaßlicher Islamist willkürlich Menschen, die sich freitags abends zum Wochenausklang bei einem Stadtfest entspannen wollen. Erneut steht der Name Solingen nicht für eine mittelgroße Industriestadt in NRW, in der jeden Tag Menschen unterschiedlichster Herkunft gut zusammenleben. Nein, nachdem Solingen jahrzehntelang ein anderes Wort für rechte Gewalt gewesen ist, muss die Stadt jetzt als Symbol für die Rückkehr des islamistischen Terrors herhalten. Diese Erfahrung muss Solingen geradezu retraumatisieren.
Steinmeiers „inständiger Wunsch“
„Wieder traf es diese Stadt“, sagt Ministerpräsident Wüst in seiner Rede bei einer Trauerveranstaltung im Theater und Konzerthaus der Stadt. „Warum immer Solingen?“, fragt Oberbürgermeister Kurzbach. In Anlehnung an den biblischen Hiob, der angesichts einer Kette von Katastrophen mit Gott ins Gericht geht, sagt der katholische Politiker: „Es ist nicht gerecht, was uns in Solingen widerfährt.“ Aber eins stehe fest: „Unseren Glauben an das Gute verlieren wir deswegen niemals.“
Eben das ist auch Steinmeiers „inständiger Wunsch“: „Lassen wir uns nicht auseinandertreiben, nicht gegeneinander aufhetzen. Stehen wir zusammen!“ Das Staatsoberhaupt erinnert daran, dass im vergangenen Jahrhundert viele Deutsche nur deshalb die Nazizeit überlebt hätten, „weil andere Länder ihre Türen offen gehalten und Humanität gezeigt haben“. Deshalb sei das Asylrecht für politisch Verfolgte vor 75 Jahren mit gutem Grund ins Grundgesetz geschrieben worden. Das müsse auch so bleiben – aber Deutschland könne das nur leisten, wenn es sich selbst nicht überfordere. Wüst sagt es kurz darauf fast noch einmal genauso: „Wir dürfen die Gutwilligen nicht überfordern.“
Solingen hat ein großes Vorbild
Wie nun weiter? Glücklicherweise hat die leidgeprüfte Stadt ein großes Vorbild, zu dem sie in dieser Situation aufschauen kann: die Solingerin Mevlüde Genc (1943-2022). Sie hatte bei dem Brandanschlag von 1993 zwei Töchter, zwei Enkelinnen und eine Nichte verloren, doch das hielt sie nicht davon ab, in Solingen zu bleiben, bewusst die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen und immer wieder zur Versöhnung aufzurufen.
Die Stadt hat mittlerweile einen Platz nach ihr benannt, das Land hat ihr einen Preis für Verständigung und Toleranz gewidmet, die Mevlüde-Genc-Medaille. In diesen Tagen haben ihre Worte in Solingen besonderes Gewicht: „Hass bringt den Tod“, hat sie gesagt. Und: „Lasst uns zum Guten nach vorne schauen.“ (dpa/mig) Aktuell Panorama
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