Ansichten & Aussichten
Verabschieden wir uns?
In einer Gesellschaft, die immer mehr nach rechts driftet, ziehen viele stille Konsequenzen. Über Fluchtpläne in marginalisierten Communities.
Von Miriam Rosenlehner Montag, 09.09.2024, 10:10 Uhr|zuletzt aktualisiert: Montag, 09.09.2024, 8:52 Uhr Lesedauer: 7 Minuten |
In den Communities geht die Angst um. Europaweit ist das Sicherheitsgefühl nichtweißer Leute dramatisch geringer als das der Mehrheitsbevölkerung. 16 Prozent der weißen Bevölkerung fühlt sich im öffentlichen Raum unsicher. 32 Prozent der nichtweißen Bevölkerung fühlt sich unsicher, das zeigte die Studie der Menschenrechtsagentur von 2023.
In Deutschland hat jetzt der Osten gewählt. Und es fühlt sich existenzbedrohender an, als wir in den Communities vorher gedacht hatten. Natürlich haben wir die Wahlprognosen verfolgt, aber es gibt einen Qualitätsunterschied zwischen Prognose und Realität. Den Communities bundesweit dämmert jetzt, dass auch die Zahlen zur Bundestagswahl so ähnlich ausfallen können. Und dass die Bundespolitik sich selbstvergessen öffentlich streitet und mit dem Bruch droht, in einer Zeit, in der klar ist, dass rechte Kräfte von einer solchen Wahl profitieren werden.
Im Netz kochen jetzt erneut die Diskussionen hoch. Vor ein paar Monaten wurde unter Zielpersonen von Rassismus schon über ihre Sicherheitsmaßnahmen diskutiert. Sinnbild war der gepackte Notfallkoffer, in dem das Nötigste ist, um sich nicht unvorbereitet zu fühlen. Leute wie wir haben unsere Papiere in Ordnung, wenn wir können, unser Reisepass läuft sicher nicht unbemerkt ab. Im Koffer lagen bisher ein Fotoalbum, unsere Zeugnisse und Adressen im Ausland.
Wir leben vereinzelt, deshalb sprachen wir darüber online. Wir sprachen darüber aber auch offline mit unseren Familien. Und vielen von uns wurde klar, dass wir mit unseren halbgaren Auswanderungsplänen privilegiert sind. Wir müssen das noch nicht mal Flucht nennen. Wir, die wir Papiere haben und Jahre Zeit hatten, unsere Kröten zu sparen für den Tag X. Wir, die wir vielleicht weltweit Anknüpfungspunkte haben, Familien, die in der letzten Generation bereits fliehen mussten, Adressen, ein internationales Mindset und einen „guten“ Pass (noch).
„Wir denken auch daran, dass wir mit diesen Plänen den rechten Kräften in die Karten spielen. Die wollen uns los sein und der Notfallkoffer hinter der Tür fühlt sich an wie eine Niederlage.“
Die Diskussion von vor ein paar Monaten empfand ich noch als unreif. Es hörte sich fast an wie Jammern auf hohem Niveau. Ich glaube, die Mehrheitsgesellschaft nahm uns das nicht ab, was ja an sich auch nicht ungewöhnlich ist. Sie mögen geglaubt haben, dass wir darüber sprechen, weil wir sie endlich bewegen wollen. So war es aber nicht. Denn wir denken auch daran, dass wir mit diesen Plänen den rechten Kräften in die Karten spielen. Die wollen uns los sein und der Notfallkoffer hinter der Tür fühlt sich an wie eine Niederlage. Wir hören sie schon freudig mit ihrem im weißgeschnürten Stiefel versteckten Teufelshuf scharren und uns hinterherrufen: Gute Heimreise. (So geschehen auf dem Instagram der Aktivistin @einefraumitklasse, die von einem bekannten Rechtsextremen Vorschläge für günstige Reisemöglichkeiten erhielt).
Es ist wie immer beim Thema Rassismus und Rechtsradikalismus für Zielpersonen ein Zwiespalt: Darüber reden ist schlecht. Darüber schweigen ist auch nicht gut.
„Nach den Wahlen empfinde ich die Diskussionen jetzt anders. Die Gefahr ist fortgeschritten, unsere Pläne sind konkreter, der Koffer ist nicht mehr wichtig, weil er ein Symbol war. „
Nach den Wahlen empfinde ich die Diskussionen jetzt anders. Die Gefahr ist fortgeschritten, unsere Pläne sind konkreter, der Koffer ist nicht mehr wichtig, weil er ein Symbol war. Sinnbilder reichen jetzt nicht mehr. Wir brauchen echte Lösungen. Und auch darüber kann man nicht öffentlich sprechen, denn es ist gefährlich für uns, wenn die Gesellschaft zu viel darüber weiß. Stell dir vor, dein Arbeitgeber nimmt ernst, dass du nach Wegen suchst, das Land zu verlassen. Es gibt keine Schlagzeilen, weil wir nicht reden können und, wie sonst oft, die Schlagzeilen zum Thema nicht erzwingen. Es ist gar nicht in unserem Interesse.
Die Ungeheuerlichkeit dessen, was ich hier aufschreibe. Müsste ich hier nicht sagen, dass das 100 Jahre nach der Machtübergabe an die Nazis gar nicht sein kann? Dass diese Gesellschaft in einen Abgrund schlittert? Alle Worte, die ich versuche, hören sich falsch an. Sie hören sich an wie eine Miniatur dessen, was hier stehen sollte. Und gleichzeitig weiß ich, dass die angesprochene Mehrheitsbevölkerung einfach nicht hören kann, was ich sage. Ich habe das Gefühl, sie haben Watte in den Ohren.
Buchtipp: „Was uns Rassismus nimmt“ von Miriam Rosenlehner, Books on Demand, erschienen am 22. Juli 2022, 368 Seiten, ISBN-10: 375626954X
„Der Rechtsruck scheint sich für die Mehrheitsgesellschaft unwirklich anzufühlen. Sie schätzen die Lage nicht so ernst ein, sie glauben ganz fest daran, dass sich hier (und vor allem für sie) nicht wirklich was ändern wird. „
Der Rechtsruck scheint sich für die Mehrheitsgesellschaft unwirklich anzufühlen. Sie schätzen die Lage nicht so ernst ein, sie glauben ganz fest daran, dass sich hier (und vor allem für sie) nicht wirklich was ändern wird. In der Rassismusforschung kennen wir das Phänomen bereits: Gaslighting. Diese Kommunikationsfigur zeigt gerade jetzt ihre zwei Seiten. Auf der Seite der Zielperson von Rassismus bekommst du das Gefühl, du bist verrückt, du übertreibst, das passiert alles nicht wirklich, ist nicht so gemeint, einfach nicht ernst zu nehmen. Auf der Seite der Mehrheitsgesellschaft entfaltet der Abwehrreflex jetzt eine weitere unheilvolle Wirkung. Die Gesellschaft treibt dem Abgrund entgegen und glaubt einfach nicht an die Klippe, auch wenn es aussieht wie eine Klippe, riecht, wie eine Klippe, sich anfühlt wie eine Klippe und ein Schild draufsteht: Klippe. Trotzdem denken viele, das sei eine Übertreibung.
Statt umzusteuern, fragen wir uns, was könnte die Leute bewegt haben, rechts zu wählen? Und ist das nicht ein legitimer, ein nötiger Gedanke? Bestimmt. Vor vielen Jahren war es das. Ich als Lehrkraft denke dabei allerdings an pädagogische Praxis. Wenn wir ein ausgewachsenes Mobbingszenario in einer Klasse haben (weil wir uns zu lange nicht um die soziale Lage in der Klasse gekümmert haben), denken wir zuerst an das Opfer und dann an die Täter. Statt die Täter mit Verständnis zu überschütten, setzen wir eine Grenze. Für die Aufarbeitung ist hinterher immer noch Zeit. Wenn Einsicht nicht erreicht werden kann, müssen Konsequenzen für die Herstellung der Ordnung und die Sicherheit Betroffener sorgen.
„Wir verstehen die Täter und scheren uns nicht um die Betroffenen, im Gegenteil, manche Politiker:innen halten es für eine gute Idee, den Mobbern ein bisschen Recht zu geben. „
All das passiert hier im Land gerade nicht. Wir verstehen die Täter und scheren uns nicht um die Betroffenen, im Gegenteil, manche Politiker:innen halten es für eine gute Idee, den Mobbern ein bisschen Recht zu geben. Sie nehmen sie ernst in ihren Forderungen und nicht ernst in der Bedrohung, die sie darstellen.
Ich vergleiche es mit diesem Szenario in einer Schulklasse: Was gefällt euch nicht an Hans, dass ihr ihn so beleidigen müsst? Was kann Hans anders machen, damit ihr euch wieder wohlfühlt? Hans‘ Kleidung passt euch nicht? Wir ändern sie. Hans‘ Stimme mögt ihr nicht? Ok, soll er künftig schweigen. Ach, Hans soll einfach weg sein? Ja, dann machen wir das so. Also kurz zusammengefasst, die aktuelle Politik ist pädagogisches Vollversagen. Radikale verstehen macht Sinn, Verständnis aber nicht.
Ein Aufarbeiten, was sie bewegt, die Frage, wie wir sie zurückführen können in einen sozialen Kontext, ist wichtig. Aber wenn dein Haus brennt, löschst du zuerst und suchst danach den Grund für den Brand. Dass man das sagen muss! Das ist das eigentliche Problem. Die Überforderung des politischen Systems mit dem Rechtsradikalismus, das Versagen der wehrhaften Demokratie.
„Was glaubt ihr, wie es sich mit Leuten lebt, die einmal gelernt haben, wenn sie jemanden an den Pranger stellen, fließt deren Blut und sie selbst erhalten Mitgefühl und Aufmerksamkeit dafür? „
Wenn wir weg sind, seid ihr allein mit diesem Land. Was glaubt ihr, wie es sich mit Leuten lebt, die einmal gelernt haben, wenn sie jemanden an den Pranger stellen, fließt deren Blut und sie selbst erhalten Mitgefühl und Aufmerksamkeit dafür?
Ich merke, wie ich träge werde, darüber zu sprechen, zu schreiben, nachzudenken. Es fühlt sich an, als wären alle Argumente bereits ausgetauscht. Meinen Schüler:innen habe ich immer gesagt: Mach dir keine Sorgen, wenn ich dir Kritik gebe. Es bedeutet, dass du mir wichtig bist und ich mithelfen will, den besten Weg für dich zu suchen. Sorgen musst du dir machen, wenn ich aufhöre mich zu sorgen.
Vielleicht sollte sich die Gesellschaft fragen, was es bedeutet, wenn die Stimmen derer verstummen, die sich bisher gesorgt haben. Meinung
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