Ausstellung
Die lange Aufarbeitung der NS-Vergangenheit im Haus der Geschichte
Das Haus der Geschichte blickt auf die Aufarbeitung der Nazi-Vergangenheit seit 1945 – nicht aus der Warte der großen Politik, sondern aus Sicht der Generationen. Die Exponate überraschen – und schockieren.
Von Christoph Driessen Mittwoch, 18.09.2024, 10:13 Uhr|zuletzt aktualisiert: Mittwoch, 18.09.2024, 10:05 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
Eines der kleinsten Exponate der neuen Ausstellung „Nach Hitler“ im Haus der Geschichte ist eine Zugfahrkarte aus Theresienstadt. Mit diesem Ticket reiste die Jüdin Erna Meintrup 1945 zurück in ihre Heimatstadt Münster, nachdem sie das Ghetto Theresienstadt überlebt hatte. „Was hat sie wohl auf dieser Fahrt empfunden?“, fragt sich Museumschef Harald Biermann. „Vielleicht so etwas wie: Leben meine Verwandten noch? Was ist mit meinem Hab und Gut? Wie wird es sein, denen wieder zu begegnen, die mich jahrelang nicht mehr gegrüßt haben?“
Die Ausstellung, die am Mittwoch (18. September) öffnet und mehr als 500 Objekte umfasst, hat den Untertitel „Die deutsche Auseinandersetzung mit dem Nationalsozialismus“. „Wir glauben, dass das Thema sehr relevant ist – dass es leider in der letzten Zeit noch mehr Relevanz erhalten hat durch den Aufstieg rechtsextremer, rechtspopulistischer Parteien“, sagt Museumschef Harald Biermann.
Der Ansatz der Ausstellung ist, das Thema nicht aus der Warte der großen Politik zu betrachten, sondern aus Sicht der aufeinander folgenden Generationen – von der „Erlebnisgeneration“, die die Nazi-Zeit noch selbst mitgemacht hatte, bis zur Generation der heute unter 30-Jährigen. Von der ersten Generation heißt es immer, sie habe die NS-Geschichte einfach nur komplett verdrängt. Das Museumsteam sieht es etwas differenzierter: „Die Standardfrage an deutschen Männer-Stammtischen war in den 50er Jahren ‚Wo warst du denn?‘“, sagt Biermann. „Und wenn dann jemand sagte ‚Ich war in Jugoslawien‘, dann wussten die anderen: Das war Partisanenkrieg, das war der schmutzigste Krieg nach dem in der Sowjetunion. Und deshalb musste auch gar nicht mehr weitergefragt werden – weil alle sowieso Bescheid wussten.“
„Die besten Grüße vom Obersalzberg“
Als Bundeskanzler Konrad Adenauer 1952 ein Wiedergutmachungsabkommen mit Israel schloss, bezeichneten dies in einer Umfrage 44 Prozent als „überflüssig“, 24 Prozent gaben an, sie stimmten zwar grundsätzlich zu, die gezahlte Summe sei aber zu hoch. Zustimmung äußerten nur elf Prozent – der Rest war unentschieden. Eines der bizarrsten Exponate der Ausstellung ist eine 1965 verschickte Postkarte mit dem Aufdruck „Hitlers Berghof von 1933 bis 1945“ und unterschiedlichen Ansichten seines Alpendomizils. Auf der Rückseite steht handschriftlich: „Die besten Grüße vom Obersalzberg“.
Info: Die Ausstellung läuft vom 18. September 2024 bis zum 26. Januar 2026. Geöffnet täglich von dienstags bis freitags 10 bis 18 Uhr, samstags, sonntags und feiertags ab 10 Uhr. Eintritt frei.
In der Bundesrepublik markierten die 60er Jahre eine neue Phase der verstärkten Auseinandersetzung. „Jetzt fragte die Generation der Kinder ihre Eltern: Wo warst du, als die Synagogen brannten?“, so Biermann. Das Wort „Holocaust“ wurde dabei erst mit der gleichnamigen US-Spielfilmserie bekannt, die 1979 auch in Deutschland gezeigt wurde, allerdings nur in den Dritten Programmen – und nicht vom Bayerischen Rundfunk. Parallel dazu schwappte eine enorme „Hitler-Welle“ über die Bundesrepublik – mit den gefälschten Tagebüchern von 1983 als makaberem Höhepunkt.
Auschwitz als Weihnachtsdeko im Fenster
„Die Essenz dieser Periode fasst für mich der spätere Buchtitel ‚Opa war kein Nazi‘ zusammen“, sagt Biermann. „Damit meine ich, dass das allgemeine Urteil immer härter ausfiel, während man persönliche Verstrickungen ausblendete. Der eigene Opa war doch schließlich immer nett gewesen.“
Nach der Wiedervereinigung weitete sich der Blick erneut, sodass weitere Opfergruppen wie Sinti und Roma ins Bild kamen. Hier gab es anfangs aber auch Konkurrenz untereinander: „Die ersten homosexuellen Opfergruppen, die in Dachau einen in Stein gemeißelten Wimpel ausstellen wollten, durften das nicht, weil die etablierten Opfergruppen es verhinderten“, berichtet Biermann.
Das wohl schockierendste Exponat
Im letzten Teil der Ausstellung geht es um den heutigen Stand der Aufarbeitung. Rechtspopulistische Politiker machen immer wieder deutlich, dass sie genug von der „ständigen Selbstkasteiung“ haben. Im vergangenen Jahr ging in Berlin in der Nähe des Holocaust-Mahnmal „Gleis 17“ eine zur Bücherbox umgebaute Telefonzelle mit einer Hörstation in Flammen auf. Angezündet hatte sie ein 63 Jahre alter Mann, der die darin stehenden Werke – Bücher über den Holocaust – vernichten wollte.
Doch das wohl schockierendste Exponat der Ausstellung ist ein weihnachtlicher Lichterbogen mit einer Darstellung des Vernichtungslagers Auschwitz. Mit der sorgfältig gearbeiteten Laubsägearbeit dekorierte ein mehrfach vorbestrafter Neonazi aus Chemnitz 2019 sein Fenster. Das Amtsgericht verurteilte ihn zu einer Geldstrafe.
„Man kann definitiv eine Korrelation zwischen Geschichtsbewusstsein und Demokratie-Affinität feststellen“, bilanziert Biermann. „Die Fragen, die diese Ausstellung stellt, haben deshalb ganz konkrete Auswirkungen auf unser Leben.“ (dpa/mig) Aktuell Feuilleton
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