Vorgeschmack auf AfD
Thüringer Landtag handlungsfähig nach Kräftemessen-Debakel
Thüringens Landtagskrise scheint vorerst beendet. Erst nach einem Spruch der Verfassungsrichter hält sich der AfD-Alterspräsident an die Regeln. Von einer Bewährungsprobe der Demokratie ist die Rede.
Von Simone Rothe und Stefan Hantzschmann Sonntag, 29.09.2024, 13:05 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 29.09.2024, 14:58 Uhr Lesedauer: 4 Minuten |
„Debakel“, „Machtergreifung“, „Putschversuch“ – nach der chaotischen ersten Sitzung des Thüringer Landtags und einem Machtwort der Verfassungsrichter geht es dann schnell: Der zweite Anlauf zur Konstituierung endet am Samstag mit einem fast kompletten Landtagspräsidium und einem neuen Präsidenten, der Überparteilichkeit verspricht. Damit ist das vor vier Wochen gewählte Parlament handlungsfähig. Der erste Anlauf am Donnerstag hatte nach einer Konfrontation zwischen einer starken AfD mit ihrem Rechtsaußen Björn Höcke und allen anderen Fraktionen zunächst im Chaos und vor Gericht geendet.
An der Landtagsspitze steht nun der CDU-Politiker Thadäus König, nachdem die AfD in dem turbulenten ersten Sitzungsteil versucht hatte, ihren Anspruch als stärkste Fraktion auf das Amt durchzudrücken. Er gewann mit 54 Stimmen gegen die AfD-Kandidatin Wiebke Muhsal mit 32 Stimmen.
Zuvor hatte der Verfassungsgerichtshof in Weimar der AfD und ihrem Alterspräsidenten Jürgen Treutler ein Stopp-Schild gezeigt. Der 73-Jährige hatte im ersten Teil der Sitzung Abgeordneten das Wort entzogen, Abstimmungen nicht zugelassen und eine von vielen Abgeordneten als parteiisch kritisierte Rede gehalten. Der Fall landete auf CDU-Antrag vor dem Verfassungsgerichtshof. Einige Experten nannten die Vorgänge in Erfurt beispiellos in der deutschen Parlamentsgeschichte, manche erinnerte das Polittheater an Vorgänge in der Weimarer Republik.
Merz: Kleiner Vorgeschmack auf nahe Zukunft
Für den designierten Unionskanzlerkandidat Friedrich Merz (CDU) waren die Thüringer Turbulenzen um die AfD „nur ein kleiner Vorgeschmack“ auf das, was in naher Zukunft noch kommen könnte. Die Demokratie in Deutschland stehe vor ihrer wohl „härtesten Bewährungsprobe der vergangenen Jahrzehnte“, sagte Merz beim Landesparteitag der nordrhein-westfälischen CDU in Münster.
In seiner ersten Rede als Landtagspräsident sagte König: „Sie können sicher sein, dass ich im Einklang mit der Verfassung und der Geschäftsordnung die Würde und die Rechte des Landtags wahren, seine Arbeit fördern, Verhandlungen gerecht und unparteiisch leiten und die Ordnung im Hause wahren werde.“
Richter widersprechen AfD-Rechtsauffassung
Die Weimarer Richter hatten klar gegen die Rechtsauffassung der AfD-Fraktion entschieden: „Der Landtag ist bereits in der Phase der Konstituierung beschlussfähig.“ Sie machten der AfD zudem klar, dass es weder ein ausschließliches Vorschlagsrecht einer einzelnen Fraktion noch ein Recht auf Wahl einer bestimmten Kandidatin oder eines Kandidaten gibt. Auch zum Vorschlagsrecht bei der Landtagspräsidentenwahl äußerten sich die Verfassungsrichter: „Die beabsichtigte Regelung, die vorsieht, dass sämtliche Fraktionen – und nicht allein die stärkste Fraktion – bereits für den 1. Wahlgang Wahlvorschläge für die Wahl des Landtagspräsidenten unterbreiten dürfen, verletzt Verfassungsrecht nicht.“
Zur Sitzungsleitung von Treutler notieren die höchsten Richter des Freistaates, dieser sei nicht berechtigt gewesen, die Feststellung der Beschlussfähigkeit und die Abstimmung über die Tagesordnung zu verweigern.
AfD bezweifelt Unabhängigkeit der Verfassungsrichter
Die AfD zeigte sich enttäuscht und unzufrieden, obwohl die Justiz unabhängig ist. „Ich habe auch mittlerweile erhebliche Zweifel an der politischen Neutralität und Unbefangenheit von einigen Richtern“, sagte Landesparteichef Stefan Möller, der selbst Jurist ist. AfD-Chef Höcke sagte, der AfD als Wahlgewinnerin sei durch einen „Taschenspielertrick“ das Landtagspräsidentenamt genommen worden. Thüringens CDU-Chef Mario Voigt bezeichnete den zweiten Anlauf nach der abgebrochenen Landtagssitzung dagegen als „ersten Tag für bessere Zeiten“ – auch für Thüringens Ansehen.
Landtagsspitze fast komplett
Die AfD in Thüringen wird vom Landesverfassungsschutz seit 2021 als erwiesen rechtsextremistisch eingestuft und beobachtet. Die Fraktionen von CDU, BSW, Linke und SPD empfanden die Aufstellung von Muhsal als Provokation. Die 38-Jährige war vor Jahren wegen Betrugs zu einer Geldstrafe verurteilt worden, weil sie den Arbeitsvertrag einer Mitarbeiterin 2014 um zwei Monate vordatiert hatte, um zusätzliches Geld von der Landtagsverwaltung zu erhalten. Sie fiel auch bei der Wahl zur Vize-Landtagspräsidentin durch.
Die CDU und andere bekräftigten jedoch, auch der AfD stehe ein Vize-Präsidentenamt zu. „Das Angebot steht“, so Voigt. Ob und wann die AfD, die erstmals in einem deutschen Landesparlament die stärkste Fraktion stellt, davon Gebrauch macht, blieb zunächst offen. Zu Vizepräsidenten des Parlaments wurden für das Bündnis Sarah Wagenknecht (BSW) der frühere MDR-Moderator Steffen Quasebarth, für die Linke die Psychologin Lena Saniye Güngör und für die SPD die Ärztin Cornelia Urban gewählt. (dpa/mig) Aktuell Politik
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