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Bundesagentur für Arbeit (Archiv) © Tim Reckmann @ flickr.com (CC 2.0), bearb. MiG

Stoff für Populismus

Bürgergeld: Was die gestiegene Ausländerquote bedeutet

Fast jeder Zweite im Bürgergeld hat keinen deutschen Pass. Das sind 2,7 Millionen Menschen – darunter viele neue Empfänger aus der Ukraine. Die BSW kritisiert die Migrationspolitik der Bundesregierung. Experten weisen das zurück.

Von Sonntag, 06.10.2024, 14:05 Uhr|zuletzt aktualisiert: Sonntag, 06.10.2024, 14:05 Uhr Lesedauer: 4 Minuten  |  

Die Zahl der Ausländer mit Bürgergeld ist in den vergangenen Jahren deutlich auf zuletzt 2,7 Millionen gestiegen. Rund 48 Prozent der Bürgergeldempfänger haben damit keinen deutschen Pass. 2021 waren rund zwei Millionen Ausländer in der Grundsicherung. Hauptgrund für den Anstieg ist die Flüchtlingsbewegung nach Russlands Einmarsch in der Ukraine.

Die Meinungen über den Ausländeranteil im Bürgergeld gehen weit auseinander. Während die BSW-Parteigründerin Sahra Wagenknecht deswegen vor einer Bedrohung des Sozialstaats warnt, betont etwa der Deutsche Gewerkschaftsbund (DGB) die Erfolge bei der Vermittlung von Bürgergeld-Beziehenden in Jobs.

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Vor Ukraine-Krieg weniger Ausländer in Grundsicherung

Von den rund 5,6 Millionen Empfängern der Grundsicherung waren im Mai 2,9 Millionen Deutsche, wie aus einer der Deutschen Presse-Agentur vorliegenden Regierungsantwort auf eine BSW-Anfrage weiter hervorgeht. Laut Statistik der Bundesagentur für Arbeit war der Ausländeranteil 2023 mit rund 2,6 Millionen Ausländern und 2,9 Millionen Deutschen im Bürgergeld noch leicht geringer. 2021, im Jahr vor Russlands Angriff auf die Ukraine, waren erst 2 Millionen Ausländer und 3,3 Millionen Deutsche in der damaligen Grundsicherung. Das Bürgergeld ersetzte das Arbeitslosengeld II Anfang 2023.

Wagenknecht sagte der Deutschen Presse-Agentur: „Dass inzwischen fast die Hälfte der Bürgergeldempfänger keinen deutschen Pass hat, belegt das Scheitern der deutschen Migrations- und Integrationspolitik und trägt dazu bei, dass das Bürgergeld immer unpopulärer geworden ist.“ Anja Piel vom Vorstand des Deutschen Gewerkschaftsbunds (DGB) hingegen sagt: „Kriegsgeflüchtete suchen sich ihr Schicksal nicht aus, und Bürgergeld gibt es ausschließlich für anerkannte Geflüchtete.“ Es koste geflüchtete Menschen Kraft und Zeit, um eine Sprache zu lernen, den Abschluss anerkennen zu lassen und dann Arbeit zu finden, sagt Piel. „Deshalb steigt die Erwerbstätigkeitsquote mit der Dauer ihres Aufenthalts.“

Viele müssen aufstocken

Piel erläutert zudem, dass ein Fünftel der rund vier Millionen arbeitsfähigen Bürgergeld-Beziehenden durchaus arbeiteten und eigenes Einkommen bezögen. Ihr Gehalt aber sei so niedrig, dass sie es mit Staatshilfe aufstocken müssten. Wagenknecht hingegen sagt: „Dass immer noch über 700.000 Ukrainer und über 700.000 Syrer und Afghanen Bürgergeld beziehen, statt ihr Einkommen durch eigene Arbeit zu sichern, ist eine traurige Bilanz für eine Bundesregierung, die einen Job-Turbo zünden wollte.“

Forscher: Bei Syrien-Integration an Spitze

Seit Russlands Überfall auf die Ukraine 2022 haben rund 1,2 Millionen Menschen von dort in Deutschland Schutz gefunden. Bei den Ukrainern liegt der Anteil der Bürgergeld-Beziehenden an der Bevölkerungsgruppe insgesamt bei knapp 65 Prozent. Bei den Menschen aus Afghanistan beträgt die Bürgergeld-Quote 47 Prozent, so die BA-Statistik. Auffällig: Bei den Menschen aus Syrien ist der Anteil stark gesunken – vom 85-Prozent-Höchststand 2017, also zwei Jahre nach dem immensen Zuzug von 2015, auf noch 55 Prozent.

„Bei der Integration der syrischen und anderen Flüchtlinge von 2015 steht Deutschland inzwischen im internationalen Vergleich ganz oben“, sagt Enzo Weber vom Institut für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB) in Nürnberg. Die Zahl der regulär beschäftigten Syrer stieg von 2020 bis 2023 um 75.000 auf 205.000. IAB-Forschungsbereichsleiter Weber erläutert: „Eine nachhaltige Strategie hat sich bewährt, die Menschen eher mit deutscher Sprache und Qualifizierung in den Arbeitsmarkt zu bringen als so schnell wie möglich.“

Wagenknecht will Leistungen streichen

Wagenknecht sagt: „Ein starker Sozialstaat funktioniert nur, wenn nicht jeder in ihn einwandern kann.“ Die BSW-Gründerin fordert eine Reform des Bürgergelds. Anerkannte Flüchtlinge sollten eine Arbeit aufnehmen dürfen – aber ohne vorherige Einzahlungen keinen Anspruch auf soziale Leistungen haben.

IAB-Forscher Weber hingegen sagt: „Die Grundsicherung ist das richtige System, weil man Menschen hier arbeitsmarktpolitisch betreuen kann.“ Gewerkschafterin Piel meint, die intensive Unterstützung der Bürgergeld-Beziehenden durch die Jobcenter zahle sich aus. Sie spielt damit auf steigende Vermittlungszahlen an. So gehen laut IAB im laufenden Jahr pro Monat doppelt so viele Ukrainerinnen und Ukrainern aus der Arbeitslosigkeit in Jobs wie im Vorjahr.

Den „Job-Motor“ der Regierung bewertete Piel als wirkungsvoll. 266.000 Flüchtlinge aus der Ukraine sind derzeit mit Job in Deutschland, wie Kanzler Olaf Scholz (SPD) dieser Tage unterstrich.

Beispiel an Dänemark nehmen?

Wagenknecht warf der deutschen Sozialdemokratie vor, nicht verstanden zu haben, dass das Sozialsystem Grenzen bei der Einwanderung brauche – im Gegensatz zur dänischen. Wissenschaftler Weber sagt hingegen, in Dänemark seien die Leistungen stark gekürzt worden. „Die Folge: Bei Männern zwar mehr Beschäftigung, aber nur vorübergehend. Spracherwerb und Bildungserfolge waren schwächer, gestiegen ist nur die Kriminalität.“

Nadelöhr Integrationskurs

Doch warum dauert es oft lange, bis Ausländer aus dem Bürgergeld auf eine Stelle wechseln – gerade sichtbar bei vielen Menschen aus der Ukraine? „Die oft langen Wartezeiten auf einen Sprach- und Integrationskurs haben viel Zeit verstreichen lassen“, sagt Weber. Inzwischen gab es Neueinstellungen von Lehrkräften, das Angebot wurde ausgeweitet. Mit 363.000 Integrationskurs-Teilnehmern gab es 2023 einen Höchststand. Doch das Warten zwischen Verpflichtung oder Berechtigung bis zum Kursbeginn dauerte vergangenes Jahr immer noch im Schnitt mehr als vier Monate.

Gute Ausstattung der Jobcenter nötig

Weber und Piel sind sich einig: Die Jobcenter müssten gut aufgestellt und ausgestattet sein. „Angesichts von immer noch hohen Zahlen der Geflüchteten im Bürgergeld sollten wir nicht die Geduld verlieren“, sagt IAB-Forscher Weber. „Wenn man in das System des Bürgergelds mit seinem Qualifizierungs- und Vermittlungsfokus investiert, kann der Staat ein gutes Geschäft machen.“ Angesichts zu erwartender Steuern und Abgaben durch mehr vorher Hilfsbedürftigen in Jobs hätten Investitionen in Sprache und Qualifikation „eine hohe Rendite“. (dpa/mig) Leitartikel Panorama

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